Die Stadt der verlorenen Kinder

Niemand in Frankreich, vielleicht niemand in ganz Europa, hat eine so unverkennbare Handschrift wie Jean-Pierre Jeunet. Von Delicattessen über Die fabelhafte Welt der Amélie bis hin zu Die Karte meiner Träume blieb er seinem Vexierblick auf seine ganz eigene Art von Universum treu.
Die Stadt der verlorenen Kinder ist sein zweites Werk, aus dem Jahr 1995, bei dem Marc Caro noch eng an seiner Seite war.

Die besondere Last der Einsamkeit bleibt niemandem erspart.

Story

One ist ein gutmütiger Riese, der mit der Weisheit eines Einfältigen seinen massigen Körper dafür nutzt, vor Publikum mit kleinen Zirkusnummer die Muskeln spielen zu lassen. Als sein kleiner Bruder gekidnappt wird, begibt er sich auf die Suche. Unter einer Gruppe von Waisenkindern, die zu kleineren Raubzügen gezwungen werden, findet er das flinkzüngige Mädchen Miette, das beschließt, gerührt von seinem Vorhaben, ihn bei der Suche zu unterstützen.
Die Spur der nicht abbrechenden Reihe von Kindesentführungen führt zu einer entlegenen Bohrinsel, wo ein seelenloser Wissenschaftler, eine Gruppe aus Klonen, eine Zwergin und ein sprechendes Gehirn ihre Spielchen mit der Welt und miteinander treiben.

Kritik

Was sich bei Delicatessen schon abzeichnete, erhält nun ganz unverhüllt Eintritt in die Filmwelt von Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro. Es ist, als entführe man Terry Gilliam (Brazil, The ZeroTheorem), um mit dessen Hilfe und drei Jugendlichen ein französisches Ungeheuer zu erschaffen. Das kann kaum gutgehen, tut es hier aber.
Ron Perlman, kluge Leute behaupten, einer der schlechtesten Schauspieler aller Zeiten, spielt einen Russen, der aussieht wie ein irischer Kugelstoßer aus dem Hause Frankenstein. Dass der Film es bewerkstelligt, den amerikanischen Riesen Perlman als den am zurückhaltendsten agierenden Darsteller des ganzen Ensembles aufzuführen, ist für sich schon eine erstaunliche Leistung, zu gleichen Teilen aber auch eine ungemein präzise Aussage darüber, was man hier zu sehen bekommt.
Die Stadt der verlorenen Kinder ist ein ungeordneter Tummelplatz wirrer Ideen, die in ihrer Aneinanderreihung erst einmal beliebig wirken. Ein irrlichternder Soundtrack, der für das verantwortliche Duo typische Aquarium-Grünstich, zum Horizont reichende Selbstbaukulissen und eine Vorliebe für den Fischaueneffekt verbunden mit skurrilem Overacting, das amoklaufende Stereotypen gebiert, die derart überzogen sind, dass sie in ihrem unkontrollierten Schaulauf schon wieder hypnotisch wirken, vermischen sich zu einem Schaum des überbordenden Wahns. Lässt man dem Film seine Zeit, entfaltet sich nach und nach aber ein Kosmos, der mit jeder Sekunde anschwillt, besser funktioniert und in sich schlüssiger wirkt. Wie ein Motor muss sich dieses südeuropäische Kuriosum erst einmal warmlaufen. Hat man ihm aber diesen Vorlauf gelassen, darf man staunen, wie einzigartig diese Maschine schnurrt – und wohin sie einen bringt.
Die Stadt der verlorenen Kinder ist das, was passiert, wenn ein Zirkus explodiert.

Ausstattungstechnisch stapft man durch eine Mischung aus Raumpatrouille Orion, Siebenstein und einer Kopie von The Zero Theorem, Schafft mit Detailversessenheit und Maßlosigkeit aber eine unverkennbare Welt voller Eigenheiten, die bei ihrer erschlagenden Vielfalt immer homogen wirkt, wenn auch nicht immer auf eine angenehme Weise. Irgendwann verliert die Eigenlogik dieser Welt aber ihre abstoßende Wirkung und man gehört als Zuschauer auf eine Weise dazu, die man 10 Minuten vorher nicht für möglich gehalten hätte.
Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen, die alles auf die Karte des kompletten Irrsinns setzen, und dadurch mit fortschreitender Dauer nur noch angestrengt und steif wirken, gelingt dem Werk das kaum Erreichbare, indem es tiefer und logischer wird, weil der ganze Unsinn eben doch nicht so willkürlich zusammengerührt wurde, wie es beim ersten Hinschauen noch scheinen mag. Die Stadt der verlorenen Kinder ist der erwähnte Zirkus, aber auch ein Aquarium, das man sowohl vollstopft mit perlenbeinhaltenden Muscheln als auch bis zum Rand mit Algen füllt.

Dominique Pinon, der hier eine ganze Heerschar an Figuren mimt, gibt dabei die enthemmteste und überdrehteste Leistung seiner Karriere ab und dürfte gleich zu Beginn der abschreckendste Einfall des ganzen Filmes sein, wie der Rest des Filmes ergibt aber auch sein überbordendes Spiel nach einer Weile Sinn. Trotz der allgegenwärtigen Verfremdung und den märchenartigen Figuren ist Die Stadt der verlorenen Kinder keineswegs ein Kinderfilm, stellen ein paar perfide Szenen klar, dass die Zielgruppe viel mehr der etwas wunderliche Erwachsene aus dem benachbarten Hexenwäldchen ist. Einen solchen Film in so konsequente Weise zu machen, wäre auch heute noch ungeheuer mutig. Die gesamte Produktion mit ihrem für die Zeit verblüffend guten Spezialeffekten, zu denen auch schon Computeranimationen zählte, unter denen lediglich ein hypnotischer grüner Rauch mit seiner comicartigen Darstellung hervorsticht, kostete allein bei der Umsetzung immerhin 18 Millionen Dollar.

Fazit

Lässt man der versteckten Struktur Zeit, sich zu offenbaren, dann betritt man, mit einem Bein im Surrealen watend, eine höchst befremdliche Wunderkiste voll mit Schrulligkeiten und einer fiebertraumartiger Atmosphäre.
Die Stadt der verlorenen Kinder ist ein märchenhaftes Ausstattungswunder, das vor guter Ideen nur so sprudelt und dabei keine Rücksicht auf den Zuschauer nimmt.

Der Erfolg des Filmes ließ Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro in der Science-Fiction bleiben. Jeunet drehte direkt im Anschluss Alien – Die Wiedergeburt, Monsieur Caro hingegen ließ 13 Jahre bis zu seinem nächsten Projekt Dante 01 verstreichen.
Beides sind Filme von eher zweifelhaftem Ruf.

The Zero Theorem

Es hat lange gedauert, bis The Zero Theorem seinen Weg in die hiesigen Kinos geschafft hat. Trotz unerschöpflichen Monty-Python-Kredits und unsterblicher Filme wie Brazil, 12 Monkeys und König der Fischer wurde Terry Gilliam von der Filmindustrie immer als Problemkind behandelt. Die monumentale Länge monumentaler Filmideen, die es wegen fehlender Investoren nie zur Realisierung gebracht haben, spricht eine ebenso deutliche Sprache wie die fehlende Aufmerksamkeit, die zum Beispiel Tideland zukam.
Dass The Zero Theorem alles andere als breit gestartet wurde und keineswegs nur Lob erfährt, ist somit alles andere als erstaunlich.

No. You’ve got it backwards, Qohen. Everything adds up to nothing, that’s the point.

Story

Qohen Leth ist ein von Phobien getränkter Paranoiker, der mit weit mehr als nur der Tatsache, dass niemand seinen Namen anerkennt, Probleme hat. In einer abgedrehten Zukunftswelt, wo jeder nur Werkzeug ist, das seinen Zweck nicht kennt, dient auch er dem gesichtslosen Management, um als Computergenie tagein, tagaus dieselbe Tätigkeit im Büro auszuführen. Doch Qohen will viel lieber in seiner zur Wohnung umfunktionierten Kirche bleiben und von dort aus arbeiten. Nicht nur, weil er dort doppelt so effizient wäre, sondern vor allem, weil er seit vielen Jahren schon auf den einen Telefonanruf wartet, durch den er den Sinn seiner Existenz erfährt.

Kritik

Und da ist er nun, der neue Gilliam, sich selbst ankündigend als eine Art Best-Of seiner allergrößten Werke – allem voran Brazil, dem sich der Film auch unverhohlen annähert. The Zero Theorem spielt in demselben kurios-futuristischen Universum, das so aussieht, wie man sich in den 80ern die Zukunft vorstellte. Grelle Mäntel, unpraktische Regenschirme, modifizierte 80er-Jahre-Frisuren, analoge Telefone und Computertürme, die den Spielekonsolen der frühen 90ern verdächtig ähnlich sind. Die Welt wirkt wie die Alptraumversion eines Straßenteppichs in einem Kinderzimmer, der eine Plastikspielzeugwelt abzubilden versucht. Also die Art von Dystopie, die eigentlich gar kein Versuch ist, tatsächlich in die Zukunft zu schauen, sondern die einfach nur Bestehendes hochrechnet und mit grell gefärbten Ängsten aufrührt. Die Art, an der viele Regisseure grandios scheitern – doch nicht Gilliam.
In dieser Welt der konsequenten Übertreibung agiert jeder, vor allen anderen aber Christoph Waltz, mit konsequentem Overacting und auch der Rest übt sich in allem, nur nicht in Zurückhaltung. The Zero Theorem ist ein kunterbuntes, atemloses Drunter und Drüber, in dem eine kauzige Idee die nächste jagt. Diese Ideen funktionieren beileibe nicht alle, ergeben aber trotzdem ein erstaunlich rundes und fast schon hypnotisches Gesamtbild. Die Rasanz, mit der sich Geschehnisse aneinanderreihen, ist ein Grund dafür. Ein anderer ist, dass man sich nicht des Eindrucks erwehren kann, dass die vermeintlich weniger gelungenen Elemente ganz bewusst in ihrer Mängelhaftigkeit präsentiert werden, weil sich der Film selbst über sie lustig macht. Auch dies ist eine Gratwanderung, die kaum ein anderer Regisseur mit so viel Fingerspitzengefühl beherrscht, wie Terry Gilliam. Alles ist so flirrend, krustig und überdreht, dass ein unangenehmer Sog entsteht. Die Welt entwickelt rasch eine schaurige Eigenlogik, ist als eigenständiges Universum so manisch überdreht wie ihr Protagonist, die Musik und die Kamera, sodass man sich manchmal unweigerlich die Frage stellt, in welchem Grade der Film sich überhaupt selbst ernstnimmt.
Dass es sich hier um ein Werk von Terry Gilliam handelt – an dieser Stelle Verzeihung für die Wiederholung, die der Autor an dieser Stelle einfach nicht zu umschiffen weiß – merkt man aber vor allem daran, dass der ganze Unsinn nicht bedeutungs- wie wirkungslos in sich zusammenfällt und in seiner kompositorischen Summe nicht nur sehr viel Sinn ergibt, sondern auch noch unerhört gut unterhält und ganz nebenbei eine Vielzahl interessanter Themenfelder streift und einen alles andere als leeren Kommentar dazu formuliert.

Fazit

Terry Gilliams neuer Film wirkt wie ein großes Selbstzitat, ist aber eigentlich ein weiterer, längst überfälliger Beitrag in einer Disziplin, die keiner so sehr beherrscht, wie der Monty-Python-Veteran. The Zero Theorem ist ein so ungebundenes wie unangepasstes Kinoerlebnis, das in seiner mysteriösen Eigenartigkeit funktioniert, obwohl die einzelnen Bestandteile für sich genommen dies nicht erwarten lassen würden. Der Sci-Fi-Film generiert einen wunderlich-kuriosen, manchmal bewusst fast peinlich berührenden Strudel, der einen für die Dauer des Filmes in eine Welt zerrt, die fremdartig, übervoll und wundersam ist, wie selten eine.

Upstream Color

Gleich noch ein Film, der sich mit Realitätsentzug beschäftigt. 2004 erhitzte ein verrätselter Science-Fiction-Film namens Primer die Gemüter, denn Zeitreisen wurden noch die so bodenständig und zugleich derart verworren dargestellt. Der Alleinverantwortliche Shane Carruths galt als neue Hoffnung –  und verschwand weitestgehend in der Versenkung.
Kurz war er als Beteiligter für Looper im Gespräch, doch waren seine Ideen zu kostspielig in der Umsetzung
2013, geschlagene 9 Jahre nach seinem Ersterfolg, stahl sich Upstream Color in die Filmwelt.


It is better than anything you’ve ever tasted. Take a drink now.

Story

Ein Unbekannter züchtet exotische Würmer und verabreicht sie der Frau Kris. Der Parasit beginnt sich in ihr einzunisten und der Wirt verliert zusehends die Haftung in der Realität. In halluzinierender Fügsamkeit hat sie nur einen kurzen lichten Moment, in dem sie merkt, wie ihr geschieht.
Später begegnet sie Jeff. Beide scheint ein ähnliches Schicksal zu verbinden, beide fühlen sich einander verbundener und bekannter, als es möglich sein könnte. Die Spuren der Vergangenheit, in der sie als Wirte für die bewusstseinsverändernden Wirbeltiere fungierten, lassen sich nicht ablegen und so beschäftigen sie sich wieder mit der seltsamen Symbiose, die sie mit den Wesen eingingen.

Kritik

Nach Shane Carruths kühl bebildertem, überkomplex erzählten Erstlingswerk Primer konnte man alles und nichts erwarten. Dass dann so etwas wie Upstream Color die Vita des studierten Mathematikers bereichern sollte, war hingegen kaum absehbar. Erfreulich ist es nichtsdestotrotz, dass das Ergebnis ganz entschieden näher an „‘alles‘ denn an ‚nichts‘ ist.
Das Überraschendste ist, wie auf den Punkt gefilmt die Bilder des Werks sind, mit ihren nebligen, aber bejahend weichen Farben. Dies in Zusammenarbeit mit der Tonspur, auf der sich Musik, Geräusche und Sprache wie ein Lied ergänzen, ergibt eine selten runde Komposition. Rückblickend lässt sich dieses Potenzial zwar schon irgendwie in Primer erkennen, doch hätte man ein derart überästhetisiertes Werk wie Upstream Color definitiv nicht erahnen können.
Sucht man nach Vergleichbarem in der Filmlandschaft, stößt man schnell auf den Namen Terrence Malick (The New World, The Tree of Life, Der schmale Grat) und muss feststellen, so weit hergeholt, wie sich diese Verwandtschaft erst einmal anhören mag, ist sie gar nicht. Beide Regisseure erschaffen eine ganz ähnliche Bildpoesie und sowohl Malick wie auch Carruths kreieren mit ihren Werken einen Sog, der sich ganz allein aus der Kombination von Bild und Ton ergibt, aus der sich eine Geschichte entfaltet, die mit herkömmlicher Erzählweise kaum noch etwas zu tun hat.
Und der Rezensent lacht sich ins Fäustchen, weil er Gelegenheit bekommt, auf seinem Science-Fiction-Blog mal ein paar huldigende Worte über Malick zu verlieren, ohne dass diese furchtbar deplatziert wirken. Auch deswegen ist Upstream Color ein toller Film.
Die Sequenzen leben von Kleinigkeiten, obwohl die Geschichte eigentlich von etwas Riesigem erzählt. Aber auch Riesiges besteht halt aus Winzigem. Manchmal sind es nur die platschenden Geräusche nackter Füße auf Parkett. Manchmal sind es nur die verschwommenen Köpfe von Fremden, die schemenhaft am Rand ins Außen des Bildausschnittes gedreht sind. Manchmal erkennt man sich in den Augen eines Schweines wieder; jenes Wesen, dessen genetischer Code zu 90% mit dem menschlichen übereinstimmt.
Ganz unabhängig von der Geschichte schlüsselt Upstream Color die Welt des Alltags auf und zeigt, wie wunderschön die einzelnen Momente eigentlich doch sind, wenn man sie mit den Augen eines Kindes erblickt. Lässt man sich führen, nimmt man diese Welt exakt so wahr, so scheu und unschuldig wird sie von den einzelnen Einstellungen eingefangen.
Von Anfang bis Ende ist der Film überwältigend in Bild und Ton, versiert im Schnitt – schon bei seinem zweiten Langfilm beweist Shane Carruths, der übrigens auch gleich eine der Hauptrollen bekleidet, unwiderruflich, dass er ein Meister der Montage ist.
Unweigerlich drängt sich die Frage auf, ob der Stil des jungen Regisseurs auch dann aufginge, wenn er damit eine ordinäre Geschichte erzählte. Ganz einfach ist die Frage wohl nicht zu beantworten, aber eigentlich ist die Geschichte, die er mit Upstream Color vermittelt, eine gewöhnliche. Einzig die Bildausschnitte, in denen sie erzählt wird, sind außergewöhnlich. Außergewöhnlich klein, außergewöhnlich poetisch, und ausgewöhnlich gut ausgesucht. Sein Regiestil ist ein Stil der ekstatischen Details; und das ist etwas, das nur sehr wenige mit dieser Selbstverständlichkeit beherrschen.

Es wurde sich nun ausschweifend über die Machart des Filmes ausgelassen, aber kaum ein Wort darüber verloren, um was es eigentlich geht. Das liegt daran, dass das Werk hier recht unkonventionell zu Werke geht. Ein wenig lässt es narrative Konventionen einfach beiseite liegen. Nicht, indem es sich störrisch über sie hinwegsetzt, sondern weil es sie einfach ignoriert, da es sie nicht braucht. Einige Dinge in der Welt von Upstream Color sind anders und was in unserer Welt sonderbar und fremdartig wirken würde, ordnet sich dort recht unaufgeregt in den Strom der Dinge ein. Das muss man verstehen und hinnehmen, dann lässt sich der Film auch ohne großen Kraftaufwand genießen.
Mag man sich darauf nicht einlassen (und das ist auch einfach nicht jedermanns Sache, so wie Rosenkohl – Gott sei Dank! – nicht jedermanns Sache ist), dann kann man dem Film vorwerfen, er würde zu wenig erzählen und das, was er erzählt, unnötig verworren und adynamisch präsentieren. Dann aber muss man zumindest eingestehen, dass er es schafft, sogar etwas eigentlich langweiliges wie eine U-Bahn-Fahrt auf eine Wiese zu zeigen, als wäre sie ein Traum vom Paradies. Oder der Umgang mit einem Richtmikrofon, als wäre dieses der auditive Schlüssel zum Höllenportal.
Trotz der ernst klingenden Thematik ist dies kein düsterer Science-Fiction-Film, sondern eine sehr wohltuende Erfahrung mit warmen Charakteren. Ein Versuch, über Grenzen hinwegzuschauen. Ein durchaus gelungener obendrein.
Er bedient sich an Zutaten aus Science-Fiction, Drogen-Film, Mystery-Thriller, Missbrauchs-Drama, Liebesfilm und sicherlich noch etlicher Motivsammlungen mehr. Vor allem der Liebesfilm tritt stark hervor, denn die Beobachtung der Charaktere ist ebenso gut getroffen, wie die reinen Atmosphäreaufnahmen.
Wer mag, kann die Story und ihre Unterkapitel als Analogie auf irgendwas lesen. Aber das würde zwangsläufig auf plumpes Nachzeichnen von Linien hinauslaufen. Daher lassen wir das einfach mal sein und bleiben auf der Erzähloberfläche. Denn die ist schön wie sonst kaum eine.

Fazit

Schon mit seinem zweiten Film erweist sich Shane Carruths als meister der Montage und liefert eine audiovisuelle Sondererfahrung, die sich fast schon auf Augenhöhe mit dem Stil Terrence Malicks befindet.
Ebenso sonderbar ist die erzählte Geschichte, die nur dann voll funktionieren kann, wenn man es schafft, Erwartungen an Normalität für 96 Minuten zuzudecken. Wenn man es schafft, sich ganz auf die hypnotische und irgendwie manische Welt einzulassen, möchte man sie am Ende nur widerstrebend verlassen.
Bleibt zu hoffen, dass nicht wieder 9 Jahre bis zu seinem nächsten Film vergehen.

Videodrome

Der Cronenberg-Altar auf scififilme.net wird weiter ausgebaut. Nachdem die verhältnismäßig  unbekannten Frühwerke Shivers und Rabid besprochen wurden, gilt es, ein paar wichtige Stationen zu überspringen, um sich den existenzialistischen Strudel Videodrome genauer anzuschauen.

(Wer sich den Trailer ansieht, tut sich übrigens keinen Gefallen)

Why did you watch it, Jack?
Business reasons.

Story

Max Renn ist Leiter eines privaten Sender namens Civic TV und sucht nach Formaten, die mehr Sex, Gewalt, Handlungsarmut – beziehungsweise die optimale Kombination all dessen bieten.
Zufällig empfängt er das Signal des Piratensenders Videodrome, auf dem genau dieser gewaltpornographische Komparativ geboten wird.
Sofort versucht er, die Verantwortlichen des Piratensenders zu kontaktieren, um endlich den ersehnten Quotensprung zu schaffen.
Der exzentrische Medienprofessor Brian O’Blivion scheint ihn auf die richtige Fährte bringen zu können. Doch es gibt auch Leute, die ihm dringend abraten, sein Projekt weiter fortzusetzen. Denn Max hat, seit er die Ausstrahlung verfolgte, eine gestörte Wahrnehmung der Realität und verfängt sich zunehmend in Halluzinationen. Eine Nebenwirkung des radikalen TV-Programms?

Kritik

Die Zukunft – und wenn es nur die Zukunft ist, wie man sie 1982 konstruierte – ist wie die Gegenwart, nur stärker. Stärker ist vor allem der Wunsch nach einem Mehr an Aufregung. Die Fernsehsender versuchen dies zu befriedigen, indem sie ihre Programme immer extremer gestalten. Videodrome portraitiert ein Land, in dem es keine Zensurbehörde gibt.
Die damaligen Extreme sind mittlerweile mehrmals überrundet worden, doch die Prämisse bleibt natürlich gültig. Die Unterhaltung muss extremer, ausgefallener, härter und vor allem mehr werden.
Es ist untypisch für einen Film dieses Genres, dass die Menschen sich nicht wie ahnungslose Schafe, sondern ganz bewusst dem Bombardement besagter Inhalte aussetzen. Die Konsumenten haben längst erkannt, dass sie sich selbst zu weit getrieben haben und nun in einem Zustand permanenter Überreizung und Stimulierung festhängen. Aufregung, Abwechslung, Alltagsflucht kann nur verschafft werden, indem das nächste Extrem das vorherige noch übertrifft. Es ist eine Unterhaltungslandschaft, die von dem Zwang ständiger Steigerung rettungslos beherrscht wird.
Aus diesem Kreislauf auszusteigen, ist ein problematischer Gedanke, schließlich ist die Angst davor, vom Zeitgeist abgehängt zu werden und die Modernität nur noch von einer fremden Seite zu sehen, während man für immer im Gestern feststeckt, viel zu groß, wenn man weiterhin integraler Bestandteil der gegenwärtigen Gesellschaft bleiben möchte. Anerkennung erfordert Solidarität.
Was Cronenberg hier vorhersagte, ist – wenig überraschend – der heurigen Unterhaltungsbranche gar nicht so fern.

Anfangs ist das, was der Meister des Body Horrors hier schuf, eine ganz eigene Verschmelzung von Fleisch und Maschine. Denn zwar bleiben die individuellen Leiber noch unberührt, die gesamte Gesellschaft ist jedoch schon eng mit der allgegenwärtigen Maschine verzahnt und würde ohne sie schlichtweg nicht mehr funktionieren. Implizit stellt sich die Frage, worin dieser Zustand begründet wird – wie es so weit kommen konnte. Hat sich die Welt ganz selbstständig in diese Richtung gewandelt? Haben wir uns evolutionär dorthin entwickelt, vielleicht durch eine Verformung eines bestimmten Hirnbereichs? Wenn wir doch eigentlich sehen, was schiefläuft, stimmt dann etwas mit der Welt nicht oder mit uns? Sollen wir uns etwa erkennend, bewusst und sicher wähnen, während die empfundene Autonomie eigentlich nur Illusion ist, die eine manipulative, unsichtbare Macht vortäuscht, um uns gefügig zu halten? Die ganz normalen Fragen von Durchschnittsparanoiden. Und damit befinden wir uns schon bis zur Stirn in der Materie.

Realität und Einbildung verschwimmen in Cronenbergs achtem Langfilm frühzeitig. In Videodrome beginnt, was der Filmemacher dann unter anderem in Naked Lunch und eXistenZ weiterführt.
Die enge Fokalisierung liefert kein Bild der Welt, in der sich die Geschichte abspielt, sondern nur Bilder streng subjektive Bilder der Wahrnehmung des Protagonisten. So wissen sowohl Max als auch der Zuschauer schnell nicht mehr, was Realität und was Halluzination ist. Ebenso schnell kommt der folgenschwere Gedanke auf, was Realität überhaupt ist und ob es überhaupt einen Sinn hat, sie von einer Halluzination zu trennen, die ebenso authentisch und wichtig erscheint, wie die angenommene Echtwelt. Letztlich gibt es doch nur den einen individuellen Kanal subjektiver Wahrnehmung. Ob wir Realität so auffassen, wie sie ist. Ob es Realität gibt. Was spielt das für eine Rolle?
Der SF-Film ist in einige Diskurse eingebettet und selbst ein ernstzunehmender Diskursbeitrag in Sachen Realitätskonzeption.
Wie im Vorbeigehen probiert sich die Geschichte auf diesem Wege an spannenden wie gelungenen Experimenten mit Sehgewohnheiten, ohne dass dies je überkonstruiert oder selbstzweckhaft wirkt. Dass der Protagonist, der sowieso von Anfang an optisch wie ethisch kein Saubermann ist, immer mehr zur willenlosen Marionette wird, ist heute wie damals ein nicht risikoloses Spiel mit den Zuschauern, die sich in Scharen meist nur dann begeistern lassen, wenn es klar erkennbare Sympathieträger gibt. Für so etwas ist in der Welt von Videodrome aber kein Raum.

Es ist verblüffend, wie schablonenartig Videodrome auf die heute erst so richtig aktuelle Posthumanismus-Debatte passt. Max Renn ist ein Mensch, der sich von Maschinen, die sich als ihren Schöpfern überlegen erweisen, hat assimilieren lassen, und nun als transhumanes Wesen eine neue Gesellschaft einläutet. Der Mensch in ihm wehrt sich dagegen, doch es ist mittlerweile nicht nur Mensch in ihm. Das alte Fleisch ist schwach. Long live the new flesh! Daher ist die Omnipräsenz von Gegenständen und Auswüchsen, die Geschlechtsorganen auffallend ähnlich sehen, auch kein Selbstzweck. Ebenso wenig wie die die Tatsache, dass der männliche Protagonist mit einem vaginalen Riss auf der Bauchdecke versehen wir. Die potente Instanz, die aktiv Zwischenwesen schafft, ist nämlich längst nicht mehr der Mensch. In einer Szene, in der sich der TV-Bildschirm gierig nach vorne wölbt und mit seinem Verlangen die physikalische Beschaffenheit des Fernsehgeräts scheinbar überwindet, drückt sich zum Schluss ein riesiger phallusgleicher Arm aus dem Gerät, der als befruchtendes Element eine Waffe auf die Welt richtet.
Das, was schließlich aus Max‘ Öffnung in die Welt kommt, sind die Werkzeuge, um eine neue Ordnung zu schaffen – und die alte einzureißen.
Entsprechend muss Max als transhumanes Wesen dann auch verenden, um seine posthumane Existenz lasterlos beginnen zu können.
Damit  haben auch klassische Formen der Verformung des Körpers ihren definitiven Platz in dem Film und sehen nach wie vor umwerfend echt und unverschämt gut aus. Gen Ende gipfelt dies in einer cyber-punkigen Mensch-Maschine-Verwebung, die sich wahrlich sehen lassen kann.
Cronenberg schafft es schon wieder, ein eigentlich völlig abstruses Thema aufzugreifen und glaubhaft zu erzählen. Weil er es kann. Seine Schauspieler legen genau das angemessene Maß an Extrovertiertheit an den Tag und sprechen Dialoge, die auf seltsame Weise in dieser Welt vollkommen natürlich, ja, auf die einzig vorstellbare Art richtig wirken. Er ist einer der interessanteste Geschichtenerzähler der letzten Jahrzehnte, dem es wie sonst keinem gelingt, Fusionen einander eigentlich unverträglicher Welten herzustellen.

Dass die Chose nie albern, veraltet oder unausgereift wirkt, liegt natürlich nicht allein am Filmvater selbst, sondern ist auch seinem talentierten Team zu verdanken. Die zahlreichen Analogeffekte sind eine Augenweide und erfreuen das Herz eines jeden, der handgemachte Tricks auch nur ein bisschen sympathisch findet. Zuständig hierfür war unter anderem Rick Baker, der zuvor den Make-Up-Oscar für seine Kreationen in American Werewolf eingeheimst hat. Zusammen mit seinem Team hat er die schockierend unterhaltsamen Realitätsausbrüche und Körperentartungen mithilfe von riesigen Gummi-Attrappen, die von mehreren Händen gesteuert wurden, allerhand fixen Ideen, die aus der kreativen Umfunktionierung von Alltagsgegenständen entstanden, und jeder Menge Schafsdarm umgesetzt.
Unwillkürlich fragt man sich, wie extravagant wohl Cronenbergs erste Drehbuchfassung, die noch weit extremer und ausschweifender gewesen sein soll, wohl als Film gewirkt hätte. Vermutlich wäre es zu viel des Guten gewesen – er selbst gestand sich ein, dass dies eine Version gewesen sei, die er eigentlich selbst nicht auf der Leinwand hätte betrachten wollen.
Auch hat sein Schaffen hier eine Schwelle des Tonfalls übertreten. Augenzwinkern ist immer noch zu erkennen, doch das spezielle Gleichgewicht zwischen Horror und Humor, das vor allem Shivers so besonders macht, existiert hier nicht mehr. Trotz selbstironischer Züge ist Videodrome ein ziemlich beklemmendes Seherlebnis, dessen Kompromisslosigkeit in Botschaft und Ausführung mit grimmigem Ernst vorgetragen wird.

Fazit

Videodrome kann vielleicht als der wegweisendste Cronenberg-Film von allen betrachtet werden. Hier wird schon detailliert bearbeitet, was später immer wieder in seinem Schaffen auftauchen sollte. Nichts davon wirkt unausgegoren oder zu verspielt, alles auf den Punkt gefilmt und in sich absolut stimmig. Der Film versucht viel und bedient eine Palette von Film Noir über Medienkritik bis hin zu Cyber-Punk, ohne dabei zwischen den Stühlen zu landen, wie es ihm bei Rabid noch passierte.
Damals trotz Studiovertrauen verschmäht, avancierte der Film außerhalb des Kinos rasch zum Kult und gilt heutzutage vollkommen zu Recht als zeitloser Klassiker.

Horrors of Malformed Men

Wunder beleidigen. Deshalb sprang der Filmexzess Horrors of Malformed Men von Fließband-Regisseur Teruo Ishii, der selbst einen Takashi Miike wie einen drehfaulen Müßiggänger aussehen lässt, quasi direkt nach Release auf die Indexe dieser Welt und erblickte erst viele Jahrzehnte nach Erscheinung – nämlich im August 2007 – in Form einer DVD-Veröffentlichung das Licht dieser bis dato viel zu normalen Welt.
Da Wunder aber nicht nur empören, sondern auch über die Dekaden hinweg Wunder bleiben, ist diese Mischung aus Frankenstein-Ekstase mit Hiroshima-Aufarbeitung, Detektiv-Groteske und Slapstick-Horror auch heute noch in der Lage, in Begeisterung zu versetzen.


A warped dream…

Story

Hitomi Kousuke ist Medizinstudent, wacht in einem Irrenhaus auf und hat so ziemlich keine Ahnung, warum er wer wo ist. Er bricht aus und besucht einen Zirkus, wo er eine Akrobatin trifft, die ebenfalls an Amnesie leidet, daraufhin aber recht bald das Zeitliche segnet, woraufhin der Unglücksrabe nun auch noch als Mörder gejagt wird. Folglich lässt sich erst einmal massieren – eine gute Idee, denn die Masseurin setzt ihn davon in Kenntnis, dass sich ein merkwürdiges Mal auf seiner Fußsohle befindet, das, ganz nebenbei, verblüffende Ähnlichkeit mit einer Swastika aufweist. Da ein kürzlich verstorbener und zudem sehr reicher Mann ihm bis aufs Haar ähnelt und selbiges Zeichen aufweist, nimmt er prompt die Identität des Doppelgängers an, indem er vorgibt, lediglich scheintot gewesen zu sein. Ein Beutelchen Intrigen und Verwicklungen später findet sich Hitomi auf einer geheimnisumwitterten Insel ein, wo ein wahnsinniger Wissenschaftler, der zugleich Vater seiner neuen Identität ist, gräuliche Ungeheuer erschafft, indem er die Körperteile verschiedener Menschen zusammenflickt und dabei finster lacht.
Irgendwo in dieser Armee aus Entartung wartet die verdrehte Antwort auf die Fragen, die sich Hitomi und Zuschauer stellen. Zum Beispiel, weshalb ihm dieses eine Schlaflied so verdammt bekannt vorkommt.

Kritik

Es ist eine Herausforderung, die Handlung von Horrors of Malformed Men (江戸川乱歩全集 恐怖奇形人間 Edogawa Rampo Zenshū: Kyoufu Kikei Ningen) anzudeuten, weil dieser Film in seinen weniger als 100 Minuten so wahnsinnig (hier steht absichtlich ‚wahnsinnig‘ und kein Synonym wie ‚unfassbar‘) viel ist, tut, will und kann.
Weise Zeitgenossen widmen sich einem Werk im besten Fall mit einem Minimum an Vorwissen, um für ein unbefangenes Erlebnis zu sorgen und kommen so sehr wie noch nie auf ihre Kosten: Trailer und Titel suggerieren ein bestimmtes Genre und bereiten damit niemanden auf das vor, was der Film tatsächlich zu bieten hat. Nach einem Vorspann aus wimmelnden Insekten kredenzt Szene eins vor Wahnsinn tanzende Geishas mit Hang zum Oberteilverlust, bevor im  Anschluss die kriminalistische Rekonstruktionsgeschichte und Doppelgängerkomödie beginnt, die erst nach einer ganzen Weile auf die Insel der namensgebenden Männer führt. Köstlich amüsieren tut man sich dabei von Anfang an, obwohl man sich dabei unentwegt im falschen Film wähnt. Durchsetzt ist das ganze mit herrlich skurrilem Humor der Marke Japan-Extrem-Situationsirrsinn. Während die üblichen Filme mit Doppelgängerthematik einen oder zwei Fehltritte zeigen, die den Schwindler bis kurz vor die Enttarnung führen, wartet man hier einfach mit allen nur Denkbaren aus dieser Richtung auf. Egal, ob Hände, Hunde oder Höschen – Hitomis Schwindel droht mit jedem Schritt aufzufliegen. Was den ganzen Film hinweg ungemein zur Erheiterung beiträgt, ist das ständig verdatterte Gesicht des Protagonisten, welches er bis zum konsequent inskonsequenten Ende nicht abzulegen gedenkt. Die Sympathiefigur schaut permanent so, als würde sie soeben aus dem Schlaf gerissen und ohne Übergang und Vorbereitung den immer abstruser werdenden Situationen ausgesetzt worden. Genaugenommen trifft das ja aber auch zu. Und genaugenommen kann der Zuschauer sich nur aus diesem Grund ein wenig in ihr wiederfinden.

Und gerade, wenn man sich anfängt heimisch zu fühlen in diesem vergnüglichen Wirrwarr, geht es auf die Insel und der Film schlägt eine Richtung ein, die jenseits von allem liegt, was man aufgrund von Titel, Trailer oder bisheriger Filmerfahrung erwarten könnte. Da wäre der Ausdruckstanz liebende Doktor (Japans Exzentriker-Größe Kichijirô Ueda) mit Spinnweben-Händen, der mit seinen bebenden, gedrungenen Bewegungen und ständigen Kurzauftritten immer wieder für zuckende Augenlider sorgt. Da wären seine Geschöpfe, die irgendwo zwischen purem Leid und neuer Daseinsfreude pendeln und dabei einer Spannbreite gerecht werden, die von billiger Maskenbildner-Knete bis hin zu wunderbarem Kreationen zwischen Jodorowsky und Tool reicht. Der Höhepunkt ist wohl eine gedehnte, surrealistische Sequenz kurz nach der Ankunft auf dem Eiland, in der verstörend-schöne Impressionen aus dem Moloch des Doktors vorgeführt werden. Jenseits von Trash und überzeichnetem (nie aber unangemessen übertriebenem) Humor finden sich immer wieder erschreckende und zugleich erschreckend eindringliche Szenen ein, die zusammen mit der beschwörenden Musikuntermalung eine seltsam erhabene Atmosphäre zwischen Anziehung und Abstoßung generieren.

Manch einer wird dem Drehbuch vorwerfen, ein lückenhaftes, aus Versatzstücken bestehendes Flickwerk zu sein. Aber gerade hier liegt das Geheimnis der tranceartigen Rhythmik des Filmes verborgen, der immer wieder von Neuem verblüfft und schockiert.
Das Ganze Abenteuer, in dem sich übrigens allen Gerüchten zum Trotz kaum ausgezogen wird, kulminiert schließlich in der wunderlichsten, unpassendsten und zugleich auch unnötigsten Pseudo-Aufklärung aus dem Reich des Unwägbaren, indem es in letzter Sekunde wieder auf die detektivische Szene springt und damit auch dem letzten Fass den Boden ausschlägt. Schlichtweg wunderbar.

Fazit

Es grenzt an Anstrengung, Horrors of Malformed Men mit einer angemessenen Synopsis einzufangen. Eine passende Kritik zu verfassen, ist unweit schwieriger, das Ganze dann mit einem Fazit zu vollenden, schlicht unmöglich. Die einzigartige Atmosphäre des Filmes, der mehr als 50 Jahre nach seinem Erscheinen auch heute noch Einmaliges zeigt, zu beschreiben, ist Worten kaum möglich. Filmische Irritation als Schnittmenge von zig dekonstruierten Genres und irgendwo zwischen Trash, Kunst, Überheblichkeit und Wahnsinn – vor allem und ganz nebenbei aber ein Meiststück in Sachen Kurzweil.
Schauen, nein: Erleben. Nicht lesen.

Die einfachste Methode, an dieses viel zu lang verpönte und deswegen entschieden zu unbekannte Schmuckstück zu gelangen, ist der Umweg über einen Import aus Amerika.

Kaiba

Kaiba ist hierzulande immer noch recht unbekannt, aber von Jahr zu Jahr häufiger an der Spitze persönlicher Seriencharts in unzähligen Blogs zu finden. Der hier ebenfalls nicht sehr berühmte Masaaki Yuasa (Mind Game)  hat seinen Zeichen- und Erzählstil mit Kaiba zur Perfektion getrieben, unterstützt von Animationsstudio Madhouse (Memories, Paprika, Death Note).

Update: Mittlerweile hat YouTube auch einen Trailer parat.

Vernichte Warp!

Story

Kaiba weiß nicht wo, wann, warum noch wer er ist. Er ist ein Junge mit zotteligen blonden Haaren, einem geheimnisvollen Mal auf dem Bauch und einem kreisrunden Tunnel, der durch seine Brust führt. Alles, was auf sein früheres Leben hindeutet, ist ein Silberanhänger mit dem verwackelten Foto eines Mädchens.
Viel Zeit zur Orientierung bleibt nicht, denn prompt wird das Feuer auf den schweigsamen Protagonisten eröffnet. Mit der Hilfe eines Unbekannten, eines Vogels und eines Dings mit Propeller gelingt knapp die Flucht. Er verlässt den Planeten und lernt ein Universum kennen, in dem das gesamte mentale Wesen einer Person auf einem Datenträger gespeichert werden kann. Das Bewusstsein ist nicht mehr an das Fleisch gebunden und dem Tod so theoretisch ein Schnippchen geschlagen. Für die Reichen sind Körper nur noch übergangsweise Aufenthaltsorte, die stets der aktuellen Mode und dem Schönheitsideal zu entsprechen haben.
Geschlecht und Alter waren die längste Zeit durch Geburt vorherbestimmt. Doch dies funktioniert nur, wenn die Armen ihre Körper zu Spottpreisen verkaufen, um die wachsende Nachfrage befriedigen zu können.
Früh muss auch Kaiba zum ersten Mal den Körper wechseln. Nur langsam findet er heraus, was es mit dem König und was mit dem Widerstand auf sich hat, warum man ihn verfolgt und wer er eigentlich ist.

Kritik

Ein Planet, der seine Klassenunterschiede durch Ober- und Unterwelten kenntlichmacht, Bewusstseinstransplantation, der völlige Werteverfall in einer eskalierten Dystopie, ein Held, der an Amnesie leidet. Hört man dies, möchte man aufjaulen, dass diese Themen doch bereits in zig anderen Filmen und Serien bis zur völligen Bedeutungslosigkeit durchgekaut worden sind.
Das ist richtig – und diese Einstellung ist mit Sicherheit eine von vielen durchaus berechtigten Vorbehalten, weshalb man diesen Anime erst einmal links liegen lässt.
Mit dem kleinen Unterschied, dass sich Kaiba diesen Themenkomplexen auf eine Weise nähert, die dem leiderprobten Querulanten so garantiert noch nicht untergekommen ist.

In der Welt von Kaiba ist es möglich, mittels einer Waffe körperlich die mentale Welt einer anderen Person zu betreten. Sie erstarrt und es öffnet sich ein kreisrunder Eingang, der direkt in das privateste Kopf-Refugium führt.
Manchmal fühlt es sich so an, als wäre die ganze Serie eigentlich eine solche Reise, deren Start vom Zuschauer unbemerkt in Folge 0 stattgefunden hat. Dadurch, dass das Gezeigte so hypberbolisch, verquer und in sich verschachtelt ist, wirkt es mehr wie einer dieser fahlen, von sich selbst durchdrungenen Träume, nach denen man entfremdet und verwirrt erwacht und für einen Augenblick damit zu kämpfen hat, Realität und Schlaffantasie voneinander zu scheiden.
Erste Besonderheit: Um darzulegen, was die Sci-Fi-Serie ausmacht, gilt es erst einmal, die technische Seite zu analysieren.

Kaiba ist ein stilistisches Ungeheuer, dessen auf den ersten Blick kindliche Optik völlig falsche Schlüsse ziehen lässt. Bereits die erste Folge lässt erahnen, welch mächtiges künstlerisches Konzept sich hinter den infantil anmutenden Bildern verbirgt.
So ist das Gezeigte manchmal in Schwarzweiß gehalten, während nur ein einzelnes Element rot hervorsticht, um unversehens in ein pulsierendes Wechselspiel von Komplementärfarben einzuscheren und sich dann nur in rudimentären Bleistiftskizzen zu präsentieren.
Auf der zweiten Bildebene entfalten sich dadaistische Spiralwelten, während abstrakte, an Disney und Astroboy erinnernde Charaktermodelle vor fabulös ausstaffierten Hintergründen umherwuseln, in denen der Ideenreichtum ganzer Galaxien verarbeitet ist. Und während die aufblühenden Szenerien vorbeirasen, dreht sich die Kamera und unmerklich vollzieht sich ein Wechsel von klassischen Zeichnungen hin zu einer makellosen 3D-Animation, die ein paar Sekunden anhält, ehe der Trip wieder in den alles andere als normalen Normalzustand mündet. Bilder, die von Dalí stammen könnten, gehen über in Impressionen von sich selbst zerstörender Zivilisation über und nur wenig später findet man sich direkt in einer Wahnvorstellung wieder. Dabei verfällt die Serie niemals dem Stilbruch, sondern wirkt in jeder Sekunde wie von selbst gewachsen. Das audiovisuelle Erlebnis ist nicht selten so hypnotisch, dass man sich während der knapp 24 Minuten, die eine Folge bemisst, wie in einem Fiebertraum fühlt.
Solche Übergänge sind es, die Kaiba zu etwas ganz Besonderem machen. Der Übergang von einer Dimension in die nächste. Von scheinbar unschuldiger Kindesfreude hin zu existenziellen Fragen, von Albernheit zu schweren, schweren Themen, von halsbrecherischer Rasanz hin zu stiller Bedächtigkeit.
Und von visueller Experimentierfreude zu immer wieder auf den Punkt durchkomponierten Zäsuren, die vor lauter Schönheit Tränen in die Augen treiben.
Obwohl nie etwas normal, sondern alles schräg und verdreht visualisiert wird, hat doch jedes Thema und sogar jedes Gefühl einen eigenen, sich intuitiv erschließenden Stil. So kommt es nicht von ungefähr, dass Abipa, Planet der Sehnsucht, so aussieht, als wäre ein Kleinkind mit Buntstiften in der Hand eingenickt.
Genauso wichtig wie das Optische, ist auch die musikalische Seite: Der perfekt sitzende, die Stimmung der Bilder katalysierender Soundtrack trifft fast immer voll ins Schwarze. Folge um Folge klingen die gleichen drei im Wortsinne epischen Themen mit Ohrwurm- und Gänsehautcharakter an und markieren kunstvoll Höhe- wie Wendepunkte.

Auf dem Papier mag sich das alles etwas anstrengend und furchtbar künstlich anhören. Setzt man sich Kaiba halbwegs unvoreingenommen aus, funktioniert die Verführung aber wie von selbst und man kann sich dem Sog kaum widersetzen. Und so spektakulär die Umsetzung sich liest, geschieht sie doch in keiner Sekunde zum bloßen Selbstzweck. Schnell entpuppen sich die nur auf den ersten Blick simplen Zeichnungen als eine der spannendsten ästhetischen Verwirklichungen von Animationskunst überhaupt. Dies geschieht so sublim und unmerklich, dass man den Augenblick, in dem die Skepsis der Überzeugung weicht, meist gar nicht benennen kann.

Was Kaiba die allerhöchsten Wertungssphären verwehrt, sind manche Folgen, die nicht ganz so wichtig, intensiv und durchdringend daherkommen wie andere. Auch in diesen Fällen ist die erzählte Geschichte keineswegs redundant und in ihrer Essenz immer noch sehenswert und mustergütig umgesetzt, doch wirken einige Ausflüge, speziell am Ende des ersten Seriendrittels, im direkten Vergleich zu den wirklich starken Folgen nicht ganz so konzeptuell durchdacht. Andererseits erstreckt sich das Geschehen über gerade mal 12 Episoden, was für eine Serie – und erst recht für einen Anime – verhältnismäßig wenig ist. Demzufolge kann man, von wenigen erratischen Ausfällen abgesehen, kaum ein Gramm Fett an den insgesamt 280 Minuten Laufzeit ausmachen.
Außerdem ist Kaiba alles andere als eingängig, sondern setzt eine hohe Aufmerksamkeit und den Willen zur Eigenarbeit voraus.
Denn neben dem ungewöhnlichen, um nicht zu sagen abschreckenden, Artdesign ist auch die Art des Erzählens alles andere als schlicht. Wichtige Storyelemente werden gerne inmitten einer Fahrt mit dem Bilderkraussell eingestreut, sodass sie schnell unbemerkt untergehen. An anderen Stellen vertraut die Serie ganz auf ihre Bildsprache und belässt es bei Andeutungen, wo für abgesichertes Verständnis konkrete Schilderungen nötig wären. Erschwerend kommt hinzu, dass anfängliche Nebenfiguren mehrere Episoden lang völlig ausgeblendet werden, um plötzlich entscheidende Funktionen zu erfüllen, während andere durch die häufigen Körper- und Zeitenwechsel nur anhand ihres Namens zu identifizieren sind. Dieser Punkt macht den Anime manchmal verwirrender als er vielleicht sein müsste.
Aber auch diese Kritikpunkte sind genaugenommen keine richtigen, tragen sie doch in erklecklichem Maße zur einzigartigen Erfahrung bei. Die ständige leichte Verunsicherung auf Zuschauerseite verstärkt das Gefühl der Exotik dieses Universums und der Verlorenheit des Protagonisten, der sich nicht einmal seiner eigenen Identität gänzlich sicher sein kann.
Vielen vermeintlich rätselhaften Serien ist es zu Eigen, dass sie Fragen stellen, auf die sie keine Antworten geben können. Kaiba hingegen stellt Fragen und liefert Antworten, die keine sind – vorerst. Was ohne Kenntnis des Produkts frustrierend klingt, ist in der Praxis ein genialer Schachzug, denn auch die vielen Unklarheiten gehören zum Konzept, sind aber nie so zahlreich, dass sie belasten. Dem geduldigen Zuschauer werden seine Fragen schrittweise beantworten. Und im Gegensatz zu genannten anderen Serien sind sind es Antworten, die das Warten wert sind.
Nicht zuletzt führt die Komplexität der Erzählweise dazu, dass man nach dem Ende einer Episode lange noch nicht mit ihr abgeschlossen hat, das Gesehene Revue passieren lässt und in dieser Überlegung erst wirklich in den Genuss des Gefühles gelangt, das einem dieser unvergleichliche Trip von einer Science-Fiction-Serie beschert.
Und wenn man am Ende der letzten Episode mit zu vielen Fragezeichen zurückbleibt, fängt man einfach wieder von vorne an.

Fazit

Eine originelle Geschichte, die in großartiger Umsetzung auf ganz eigene Weise erzählt wird. Gleichermaßen rührend, schockierend kompromisslos und erstaunlich, ist Kaiba beileibe keine leichte Kost, belohnt den offenen Zuschauer im Gegenzug aber mit einem ganz eigenen Erlebnis.
Angucken. Wenn auch auf eigene Gefahr.