Under the Skin

Jonathan Glazer ist ein Phänomen, das wächst und wächst. 2000 kam quasi aus dem Nichts sein Regiedebut Sexy Beast – unangenehm, sonderbar, bizarr und Ben Kingsley in einer Paraderolle. Vier Jahre später folgte Birth, der einen handfesten Eklat auslöste und eine 9-Jährige Pause Glazers einläutete. Ihr Ende findet sie mit Under the Skin, ein Film, der bestätigt, was sich bereits ahnen ließ: Zwischen den langen Pausen reiften das ästhetische Bewusstsein und die handwerkliche Versiertheit des Briten ungehindert weiter und weiter.

I’m dreamng.
Yes, we are.

Story


Etwas bildet sich. Im Anschluss trägt ein maskierter Motorradfahrer einen leblosen Frauenkörper in das Innere eines Lieferwagens, das ganz und gar nicht wie das Innere eines Lieferwagens aussieht. Eine andere Frau, nackt, eignet sich die Kleidung der Frau an. Dann steigt sie in einen Wagen, fährt nach Glasgow und überredet Männer, sie nach Hause zu begleiten. Doch in dem Heim der Namenlosen erwartet die Verführten kein Sex, sondern ein spiegelglatter schwarzer See, umgeben von Nichts. Sie tauchen ein und es ist das letzte, was sie sehen.

Kritik

Schwarz, dann ein Punkt und wunde Geräusche. Eine Übergangscollage von Bilderfolgen mit hypnotischen Anleihen, meist Kreise, die zu Halbmondformen zusammengleiten. Stammeln, abgehackte Töne, die immer mehr Struktur entwickeln. Wir sehen ein Auge, es blickt zurück. Dann ein kalter, klarer Strom, der einen Berg hinabrauscht. Ist Under the Skind angenehm, optimistisch? Ist Under the Skin beunruhigend, furchteinflößend? Ja. Ja zu beidem. Vor allem aber ist Jonathan Glazers Werk ein psychedelischer Reigen ungenormter, aber streng durchdachter Bilder. Aufgesetzt oder unerträglich verkünstelt wirkt das Geschehen trotzdem nie. Das Gegenteil ist der Fall – viele Aufnahmen fanden mit versteckter Kamera statt, manche Gespräche sind improvisiert. Dieser naturalistische Anstrich stellt ein passendes Gegengewicht zum durchkomponierten Montagemeisterwerk dar, das der Film formal ist. So fühlt er sich nie kühl und künstlich an, sondern wabert stattdessen in der Mitte vieler Extreme, die er allesamt simultan beinhaltet.
Das klingt anstrengend, tatsächlich ist es das aber nicht. Dafür ist es zu sehr aus einem Guss, stilistisch viel zu sehr fesselnd, als Gesamterfahrung zu faszinierend, um durch die strenge Verschwiegenheit abzustoßen, die Under the Skin an den Tag legt. Denn erzählt wird hier nur indirekt, was wieder einmal vor Augen führt, wie sehr klassisches Kino darauf geeicht ist, alles ausführlich und direkt zu erzählen, anstatt darauf zu vertrauen, dass ein Zeigen und Andeuten ebenso funktionell sein kann. Gerade deswegen kann man Under the Skin natürlich anstrengend finden, das zu entscheiden liegt wie immer in letzter Instanz bei jedem Zuschauer selbst. Unorthodox ist der Science-Fiction-Film auf jeden Fall.
Die Idee, das Alien als erstes direkt in ein Shopingcenter zu schicken, welches nicht minder fremdartig wirkt als die bisherigen Schauplätze, lässt der Ahnung Raum, dass wir der Protagonistin nicht nur zuschauen, sondern die Welt durch ihre Augen wahrnehmen. Ein entlarvender Blick, (unabhängig davon, dass Filme über Frauen, die ihre Verführungskünste gegen Männer einsetzen grundsätzlich entlarvend sind) vermittelt durch eine Kamera, der man vielleicht nicht immer trauen kann, deren Bilder kühl, aber schön sind. Das völlig unverständliche Englisch mit dem kruden schottischen Dialekt trägt sein Übriges zum Eindruck völliger Fremde bei. Nicht nur die Geschichte wird indirekt vermittelt, auch unsere alltägliche Welt ist eine, die automatengleich abläuft, von Außen betrachtet aber gewiss nicht durchweg schlüssig wirkt.

Das ist das absolut Bemerkenswerte an dem Film – wie das Fremdartige dargestellt und vermittelt wird. Alles ist mysteriös, auf eine bescheidene, unaufdringliche und doch unleugbare Weise, die das Zentrum des Filmes darstellt, fremd. Und als Fremde erst einmal potenziell alles zwischen hinreißend und furchtbar. Scarlett Johanssons (Lucy, Her) undurchschaubare Figur ist ein stahlharter, eisdünner Stachel im alltäglichen Trott Glasgows. Was ihre direkten Beweggründe sind, das bleibt vorerst unerklärt und ist nur anhand von Andeutungen schätzbar.

Zu sehen ist eine Welt, in der die Männer einsam und die meisten Menschen unerträglich sind, Straßen ausnahmslos ins Verderben führen und die Welt ein grauer Fehler ist. Raumsemantisch ist Under the Skin, nebenbei gesagt, ein ergiebiges Untersuchungsobjekt. Welche Orte Sicherheit versprechen, welche sie versagen, was sich vor und was sich hinter Türen befindet, das sind Fragen, die sich gewinnbringend an den Film richten lassen. Hinzu kommen die zahlreichen Momente im Innenraum eines Autos, das Verhältnis von Stadt und Land. Betrachtet man, nach welchen Regeln diese Orte funktionieren, wird die Entwicklung der Hauptfigur nachvollziehbarer und tragischer.

Als Gegengewicht zur versteckten Kamera ist Under the Skind kreativ geschnitten und ein bösartiges Spiel mit starken Licht- und Schattenkontrasten hält Händchen mit der durchkomponierten Szenenausleuchtung. Dazu liegt fast ständige Musikuntermalung auf den Bildern, die sich immer am Rand zur Dissonanz bewegt. Setzt dies aus, ist die Stille so auffällig, dass man als Zuschauer kurzzeitig leiser und langsamer atmet, bevor er registriert, dass er bereits stärker vom Sog des Filmes erfasst wurde, als er es gewahr haben wollte. Es dauert, bis die Struktur der Musik deutlich wird und analog verhält es sich mit der Geschichte. Aber es macht Spaß, diesem Prozess beizuwohnen, sich von Under the Skin täuschen, verwirren, bezirzen und auch etwas würgen zu lassen.

Fazt

Die außerirdische Venusfliegenfalle ist bekannt aus Species – die Kombination formal ausgeklügelter Töne und Bilder, die hinreißende Verknüpfung einander eigentlich antagonistisch gesonnener Punkte und die daraus resultierenden Bilder, mit denen Under the Skin seine Geschichte erzählt, entwickeln in ihrem Zusammenfall eine zur Gänze eigenständige Gravitation auf jeden Zuschauer, der offen ist für die viel zu ungewöhnliche Form indirekten Erzählens.

I am Ichihashi – Journal of a Murderer

15. Japan-Filmfest Special 6

Until I Was Arrested lautet der Titel des autobiographischen Werks, das Tatsuya Ichihashi im Gefängnis schrieb, um seine Version der Ermordung von Engländerin Lindsay Hawker und die anschließende, zweieinhalb Jahre anhaltende Flucht durch Japan zu schildern. Die Familie des Opfers verweigerte die Annahme der Verkaufserlöse.
Regisseur Dean Fujioka übernahm in seiner Adaption ebenfalls die Hauptrolle.

Dead by suicide or misadventure.

Story

Tatsuya Ichihashi vergewaltigte und ermordete die 22-jährige Lindsay. Es war seine erste schwere Straftat. Als die Polizei ihn zu verassen versuchte, floh er nur mit einem Rucksack mit Süortkleidung. Eine Flucht, die quer durch Japan führen und über zweieinhalb Jahre andauern sollte. Eine Flucht vor einem ganzen Land, der Schuld und sich selbst.
Irgendwo auf diesem Weg willige er ein, ein Interview zu geben, bei welchem die Fragen zu barsch für sein strapaziertes Gewissen sind und er selbst zu desozialisiert für die Fragen ist.

Kritik

Das Gesicht Ichihashis ist geisterhaft leer, aber auch schön, zerbrechlich, in manchen Einstellungen durch seine Leere fast schon erhaben. Er wird zutiefst menschlich und doch unverkennbar krank dargestellt. Unverkennbar Bestie. Inkompatibel. Sich dessen bewusst, darunter leidend. Er ist ein Schatten, zerrissen, unrettbar, wie er unter der Last seines Vergehens ziellos durch Japan flieht, während die Zahl der Verfolger stetig zunimmt und sein Kopfgeld bis ins Groteske anschwillt. Eine Flucht vor den Behörden, der Schuld, vor sich selbst und den Fragen, die alle drei an ihn haben, vor allem aber wohl vor den Antworten, die gegeben werden könnten. Dabei verliert er sich vor lauter Angst zwangsläufig selbst, wird fast eigenschaftslos und leer.
Die Vermittlung der Geschichte ist direkt, schmerzhaft, nah am Mann und doch ständig mit einer gewissen Distanziertheit behaftet die dem Zuschauer seine urteilfordernde (und sei es nur das Urteil, nicht zu urteilen) Beobachterposition vorhält. Die Farben sind kalt und schwer, die Kamera spähend, häufig fast schon versteckt und Geräusche nicht selten ebenso laut wie die Stimmen der Menschen. Der Film stilisiert den Fluchtweg Ichihashis auf eine Weise, die das Essenzielle in gekonnt abstrahierter Form darbietet, sich dabei aber trotzdem fast schon naturalistisch anfühlt.
I_am_Ichihashi_-_Journal_of_a_Murderer-1   I_am_Ichihashi_-_Journal_of_a_Murderer-2   I_Am_Ichihashi_Journal_of_a_Murderer

I am Ichihashi – Journal of a Murderer ist ein gewagtes Projekt, da die thematisierten Ereignisse und ihr Gedenken noch offen und frisch sind. Der Film enthält sich einer Bewertung der Ereignisse. Er spricht sich nicht für seinen Protagonisten aus – distanziert sich durch Texttafeln am Anfang und Ende sogar kritisch – verweigert aber ebenso eine Tendenz zum Schuldspruch. Er ist ein Beobachter, der sich eines Werturteils enthält. Und mit ihm der Zuschauer, der sich in der unangenehmen Situation empfindet, selbst Antworten und eine eigene Positionierung der Hauptperson gegenüber finden zu müssen. Eine keineswegs angenehme Aufgabe. Es ist kein Film über die Suche nach Schuld, vielmehr stellt er die leise Frage nach der Natur von Schuld. Es ist eine Geschichte, die von dem Trauma eines Mannes berichtet, der seine Identität ablegte und sich Schuld überstreifte, um sich rastlos und auf der Suche nach einem unmöglichen Neuanfang einem Ende anzunähern. Die Unmöglichkeit seiner Suche findet im letzten Drittel ihr Kulminationsmoment, wenn er auf einer leeren, kahlen wie kalten Insel seinen Irrgang durch sinnlos verwuchertes Dickicht antritt, ohne die Möglichkeit auf ein Ziel, sondern das Ziel in der Kreisbewegung, im Nomadentum findet, wenn auch nur kurzfristig. Es ist kahl, verwittert, lerr, bitter, windig, wüst, durch und durch trübsinnig. Ichihashis Odyssee entpuppt sich mit jeder Station, mit jeder neu angenommenen Identität als metaphysische Reise in den gesellschaftlichen wie individuellen Nexus.
Unterbrochen wird die Reise des Mörders von Interviewausschnitten, die zeitlich und räumlich vorerst unverortbar sind. Die Fragen, die dem zusammengekauerten Flüchtling gestellt werden, stehen im harten Kontrast zum Rest des Filmes. Sie sind nicht nur streng, sondern aggressiv und wenig ergiebig, wirken zu gestellt im Vergleich zum abgeklärten Rest und stören den Fluss des Filmes, obwohl sie als erzählerische Klammer durchaus sinnvoll sind.
So interessant I am Ichihashi auch ist, leicht genießbar ist dieses Werk kaum. Zu sperrig, zu sehr in die eigene Leere gerichtet und ohne klassisches Narrativ. Wie auch ihre quasi einzige Figur erscheint die Erzählung selbst ziel- und beinahe willenlos getrieben. Das ist notwendig, da sich der Film entscheidet, ein Urteil zu meiden, führt aber somit zu einer Seherfahrung, die durchaus ins Anstrengende übergleiten kann. Auch deshalb, weil der Film zwangsläufig im Nichts enden muss und den Zuschauer ratlos und erschöpft in ein verwirrend fröhliches Abspannlied entlässt.

Fazit

Eine mutig eingenommene Perspektive auf noch frische Ereignisse, die sich nie der Suche nach Schuld widmet, sondern dem Zuschauer die seltene wie anspruchsvolle Aufgabe überlässt, den gebrochenen Täter auf seiner Flucht kennenzulernen und sich möglichst unbeeinflusst ein Urteil zu bilden. Gestützt wird das Wagnis von einer kalten, abweisenden Atmosphäre in noch kälteren Bildern. Dass I am Ichihashi – Journal of a Murderer keine einfache Seherfahrung ist und einen auch nicht mit dem Bedürfnis nach Tanzliedern zurücklässt, ist quasi obligatorisch.