Das letzte Ufer

1957 veröffentlichte Nevil Shute seinen Science-Fiction-Roman Das letzte Ufer. Keine zwei Jahre mussten ins Land gehen, bis Stanley Kramer (Flucht in Ketten, Das Urteil von Nürnberg) den Stoff nach einem Drehbuch von John Paxton auf die Leinwand transferiert hatte – und zwar gespickt mit Stars wie Gregory, Peck Anthony Perkins oder Fred Astaire in seiner ersten Rolle außerhalb eines Musicals. Diese extrem kurze Zeitspanne steht der Zeitlosigkeit des Ergebnisses gegenüber.

There is still time.. brother.

Story

Der globale Atomare Vernichtungskrieg liegt in der Vergangenheit. Wer wen warum bombardierte, ist kaum noch in Erinnerung. Die Welt ist verstrahlt und unbewohnbar. Einzig Australien ist eine kleine Insel, auf der Leben noch möglich ist, wenn auch unter dem Scheffel der Zeit. Die Menschen bemühen sich nach Kräften, ihr bisheriges Leben fortzusetzen. Sie feiern, gehen einer Arbeit nach, lieben und intrigieren. Insgeheim aber ist allen bewusst, dass sie auf Zeit leben und die radioaktive Wolke früher oder später auch Australien einhüllen wird.
Als rätselhafte Morsesignale aus Sand Diego empfangen werden, bricht ein U-Boot gen Amerika auf, um die dortige Lage auszukundschaften. Mit an Bord sind der Wissenschaftler Julian Osborne und Captain Dwight Towers, welche beide für ihren Dienst Leben und Liebe zurücklassen müssen.

Kritik

Das letzte Ufer oder On the Beach, wie der Film im Original etwas poetischer (und feinfühliger, da inhaltlich auf einen bestimmten Satz bezogen) heißt, ist ein spannendes, bis heute recht einmaliges Experiment. Manch einer mag aufgrund der Mitarbeit von Fred Astaire, dem vielleicht größten Tanz- und Musicalfilmstar, stocken. Und zwar ist Das letzte Ufer weit entfernt von diesem Genre, rein vom Tonfall her kann man aber durchaus Verbindungen ziehen. Denn der Film ist geradezu leichtfüßig. Die Menschen flirten in geschliffenen Dialogen miteinander, die Musik gemahnt an Heimatfilme und Komödien desselben Jahrzehnts. Es werden ein paar wirklich heitere, urkomische Dialoge geboten, die aber stets klar und aufrichtig, kein oberflächliches Gespöttel sind.All das wirkt anfangs befremdlich, immerhin handelt es sich bei Nevil Shutes Geschichte ja im Kern um einen Endzeitfilm. Es ist genau dieser Kontrast, der Das letzte Ufer so tief und einzigartig macht.

Durchdachte Kameraeinstellungen lassen beinahe jede Szene eine einzelne Geschichte für sich erzählen; manchmal aber auch mit oder gar nur durch den Ton. Es entsteht das von Anfang an das glaubwürdige Bild einer Gesellschaft, die in etwas Unmögliches gefallen ist, in Ermangelung praktikabler Alternativen und auch, weil sie nichts anderes kennt, aber einfach weitermacht wie bisher. Gleichzeitig aber nicht weitermachen kann. Die Chance auf Rettung durch Zufall, eine nicht bedachte Variable, die alles umkehrt, oder einen rettenden Heiland ist verschwindend gering. Der Horizont, der das Ende der Menschheit bedeutet, zieht sich immer enger um die Verbliebenen zusammen. Und diesen bleibt nur, auf den Boden und nicht zum Horizont zu gucken, und das Leben zu leben, bis es endet. Die Welt, wie man sie kennt, kippt. Der Mensch, der sie zum Kippen brachte, kann die eintretende Unbegreiflichkeit nicht fassen und verschließt die Augen, so lange ein Blick noch besteht.
Damit dieses Experiment gelingt, muss die Geschichte eine anspruchsvolle Balance halten, darf nicht ins Kitschige oder Belanglos abrutschen in der Darstellung des aufgesetzten Alltags, darf die darunter brodelnde Panik und Verzweiflung aber auch nicht zur prätentiös auf dem Silbertablett drapieren.
Und hier brilliert Das letzte Ufer durchgehend. Die klugen Dialoge sind nie pathetisch oder spröde, sondern immer graziös-nüchtern, trocken, elegant, aber auch niemals aufgesetzt. Selbst der kurze Part, in dem man den Film kurzzeitig als Lehrstück bezeichnen könnte, ist sprachlich und schauspielerisch eine Freude. Das muss man erst einmal schaffen, und zwar unabhängig vom Produktionsjahr. Und da der Film kaum von irgendwelchen (durchaus vorhandenen) Plot-Twists lebt, sondern ganz auf seiner Stimmung aufbaut, verliert er auch bei mehrmaligen Sichtungen nichts, sondern gewinnt stattdessen noch dazu, weil man Details und Zusammenhänge besser erkennt. Dabei soll die Story aber  nicht verunglimpft werden, der zu Folgen allemal spannend ist.

Die Dialoge definieren die Beziehungen der Figuren zueinander sowie die hier stattfindenden Veränderungen. Und sie definieren, dass sich eigentlich doch alles um die Katastrophe herum dreht, denn die Konversationen schleichen nur so um dieses Thema, darum bemüht, es ja nicht deutlich zu streifen. Diese Kombination ist verwirrend, denn als Zuschauer weiß man häufig nicht, was einen erwartet und wie das Wartende, wenn die Geschichte dort ankam, einzuordnen ist. Der Film spielt mit der permanenten Ambivalenz dieser semantischen Gegensatzareale Alltag und Kollaps und indirekt auch der Unsicherheit und Unbeständigkeit dieser beiden Zustände. So gibt es seltene, immer noch verkleidete, nichtsdestotrotz aber effiziente Ausschläge in den Schrecken hinein, wenn sich die Augen für einen Augenblick nicht vor der Realität abwenden lassen. Zynismus und Sarkasmus sind in den Reden auffällig präsent und deuten an, dass eigentlich etwas anderes gesagt wird und primär Verdrängung stattfindet. So wie die Situation auf emotionaler Ebene plötzlich in die Schieflage gerät, so geraten auch metaphorisch immer wieder Dinge in die Schieflage. Die Kamera verlagert sich unversehens immer wieder in eine schräge Position und lässt Personen und Gegenstände plötzlich aus verkanteter Perspektive erscheinen.
Der oscargekrönte Kameramann Guiseppe Rotunno beweist ein feines Gefühl für Gesichter, das Drehbuch ein ebensolches für einzelne Momente und Pointen. Vieles davon ist sicherlich auch Verdienst der Romanvorlage, die gelungene Übertragung in das Medium Film ist aber ganz unabhängig davon zu loben. So stehen dem auch die Sound- und Geräuschkulisse in nichts nach. Und die auf eher beschwingtere Kost geeichten Schauspieler müssen gar nicht anders sein als sonst, die blendende Regie sorgt schon dafür, dass sie durch ihre Art ganz unbewusst auf Details hinweisen.
Mit fortschreitender Dauer läuft sich der Film nicht etwa wund oder droht sich unglücklich zu verfahren, im Gegenteil, es mehren sich die denkwürdigen Einstellungen in diesem Film denkwürdiger, aber stets subtiler Einstellungen. Zum Ende findet er gleich eine Vielzahl  abschließender Einstellungen, die passender, kunstvoller, eleganter kaum sein könnten, ohne auch hier je überflüssig oder gar zu gefühlsduselig zu werden.
Negativ anzumerken ist die etwas ungeschickte Kopplung der beiden Storystränge nach einem Dreiviertel des Filmes, die immer etwas unmotiviert nebeneinander herlaufen und vor allem eigenartige Sprünge in ihrer Relevanz vornehmen. Auf der anderen Seite vermögen sie es gerade deswegen aber auch für überraschende Momente zu sorgen.

 Fazit

Das letzte Ufer ist heute nach wie vor ein bemerkenswerter und in seiner Art einzigartiger Film. Von Anfang bis Ende beeindruckt er mit einer perfekt umgesetzten konzeptuellen Konsequenz, die ihresgleichen sucht. Dass der Film aus den 50ern stammt, lässt diesen Umstand nur noch beeindruckender erscheinen. Die Stilsicherheit und Selbstbestimmtheit, die majestätische Ehrlichkeit und die durchgehend betörende Machart lassen eventuelle Stolpersteine in der Erzählstruktur unterm Strich mehr als egal erscheinen und garantieren ein psychologisch fesselndes, ästhetisch pointiertes Spiel mit Ängsten, Leugnung, menschlichen Werten und in vielerlei Hinsicht auch den Sehgewohnheiten des Zuschauers.

I am Ichihashi – Journal of a Murderer

15. Japan-Filmfest Special 6

Until I Was Arrested lautet der Titel des autobiographischen Werks, das Tatsuya Ichihashi im Gefängnis schrieb, um seine Version der Ermordung von Engländerin Lindsay Hawker und die anschließende, zweieinhalb Jahre anhaltende Flucht durch Japan zu schildern. Die Familie des Opfers verweigerte die Annahme der Verkaufserlöse.
Regisseur Dean Fujioka übernahm in seiner Adaption ebenfalls die Hauptrolle.

Dead by suicide or misadventure.

Story

Tatsuya Ichihashi vergewaltigte und ermordete die 22-jährige Lindsay. Es war seine erste schwere Straftat. Als die Polizei ihn zu verassen versuchte, floh er nur mit einem Rucksack mit Süortkleidung. Eine Flucht, die quer durch Japan führen und über zweieinhalb Jahre andauern sollte. Eine Flucht vor einem ganzen Land, der Schuld und sich selbst.
Irgendwo auf diesem Weg willige er ein, ein Interview zu geben, bei welchem die Fragen zu barsch für sein strapaziertes Gewissen sind und er selbst zu desozialisiert für die Fragen ist.

Kritik

Das Gesicht Ichihashis ist geisterhaft leer, aber auch schön, zerbrechlich, in manchen Einstellungen durch seine Leere fast schon erhaben. Er wird zutiefst menschlich und doch unverkennbar krank dargestellt. Unverkennbar Bestie. Inkompatibel. Sich dessen bewusst, darunter leidend. Er ist ein Schatten, zerrissen, unrettbar, wie er unter der Last seines Vergehens ziellos durch Japan flieht, während die Zahl der Verfolger stetig zunimmt und sein Kopfgeld bis ins Groteske anschwillt. Eine Flucht vor den Behörden, der Schuld, vor sich selbst und den Fragen, die alle drei an ihn haben, vor allem aber wohl vor den Antworten, die gegeben werden könnten. Dabei verliert er sich vor lauter Angst zwangsläufig selbst, wird fast eigenschaftslos und leer.
Die Vermittlung der Geschichte ist direkt, schmerzhaft, nah am Mann und doch ständig mit einer gewissen Distanziertheit behaftet die dem Zuschauer seine urteilfordernde (und sei es nur das Urteil, nicht zu urteilen) Beobachterposition vorhält. Die Farben sind kalt und schwer, die Kamera spähend, häufig fast schon versteckt und Geräusche nicht selten ebenso laut wie die Stimmen der Menschen. Der Film stilisiert den Fluchtweg Ichihashis auf eine Weise, die das Essenzielle in gekonnt abstrahierter Form darbietet, sich dabei aber trotzdem fast schon naturalistisch anfühlt.
I_am_Ichihashi_-_Journal_of_a_Murderer-1   I_am_Ichihashi_-_Journal_of_a_Murderer-2   I_Am_Ichihashi_Journal_of_a_Murderer

I am Ichihashi – Journal of a Murderer ist ein gewagtes Projekt, da die thematisierten Ereignisse und ihr Gedenken noch offen und frisch sind. Der Film enthält sich einer Bewertung der Ereignisse. Er spricht sich nicht für seinen Protagonisten aus – distanziert sich durch Texttafeln am Anfang und Ende sogar kritisch – verweigert aber ebenso eine Tendenz zum Schuldspruch. Er ist ein Beobachter, der sich eines Werturteils enthält. Und mit ihm der Zuschauer, der sich in der unangenehmen Situation empfindet, selbst Antworten und eine eigene Positionierung der Hauptperson gegenüber finden zu müssen. Eine keineswegs angenehme Aufgabe. Es ist kein Film über die Suche nach Schuld, vielmehr stellt er die leise Frage nach der Natur von Schuld. Es ist eine Geschichte, die von dem Trauma eines Mannes berichtet, der seine Identität ablegte und sich Schuld überstreifte, um sich rastlos und auf der Suche nach einem unmöglichen Neuanfang einem Ende anzunähern. Die Unmöglichkeit seiner Suche findet im letzten Drittel ihr Kulminationsmoment, wenn er auf einer leeren, kahlen wie kalten Insel seinen Irrgang durch sinnlos verwuchertes Dickicht antritt, ohne die Möglichkeit auf ein Ziel, sondern das Ziel in der Kreisbewegung, im Nomadentum findet, wenn auch nur kurzfristig. Es ist kahl, verwittert, lerr, bitter, windig, wüst, durch und durch trübsinnig. Ichihashis Odyssee entpuppt sich mit jeder Station, mit jeder neu angenommenen Identität als metaphysische Reise in den gesellschaftlichen wie individuellen Nexus.
Unterbrochen wird die Reise des Mörders von Interviewausschnitten, die zeitlich und räumlich vorerst unverortbar sind. Die Fragen, die dem zusammengekauerten Flüchtling gestellt werden, stehen im harten Kontrast zum Rest des Filmes. Sie sind nicht nur streng, sondern aggressiv und wenig ergiebig, wirken zu gestellt im Vergleich zum abgeklärten Rest und stören den Fluss des Filmes, obwohl sie als erzählerische Klammer durchaus sinnvoll sind.
So interessant I am Ichihashi auch ist, leicht genießbar ist dieses Werk kaum. Zu sperrig, zu sehr in die eigene Leere gerichtet und ohne klassisches Narrativ. Wie auch ihre quasi einzige Figur erscheint die Erzählung selbst ziel- und beinahe willenlos getrieben. Das ist notwendig, da sich der Film entscheidet, ein Urteil zu meiden, führt aber somit zu einer Seherfahrung, die durchaus ins Anstrengende übergleiten kann. Auch deshalb, weil der Film zwangsläufig im Nichts enden muss und den Zuschauer ratlos und erschöpft in ein verwirrend fröhliches Abspannlied entlässt.

Fazit

Eine mutig eingenommene Perspektive auf noch frische Ereignisse, die sich nie der Suche nach Schuld widmet, sondern dem Zuschauer die seltene wie anspruchsvolle Aufgabe überlässt, den gebrochenen Täter auf seiner Flucht kennenzulernen und sich möglichst unbeeinflusst ein Urteil zu bilden. Gestützt wird das Wagnis von einer kalten, abweisenden Atmosphäre in noch kälteren Bildern. Dass I am Ichihashi – Journal of a Murderer keine einfache Seherfahrung ist und einen auch nicht mit dem Bedürfnis nach Tanzliedern zurücklässt, ist quasi obligatorisch.