Wenn die Leitfiguren des südkoreanischen Kinos sich zusammenschließen, um einen französischen Kultcomic in englischer Sprache zu verfilmen, dann horcht man auf, leckt sich die Lippen und versucht, ruhig zu bleiben. Aber man hat auch ein bisschen Angst, dass das alles nach hinten losgeht.
Produzent Park Chan-wook (Oldboy) hat mit Stoker bereits erfolgreich außerhalb von Asien Fuß gefasst. Sein nicht minder fähiger Landsmann Bong Joon-ho (Memories of Murder, The Host) hingegen betritt zum ersten Mal internationalen Boden. Und hinterlässt prompt tiefe Fußabdrücke.
Because I want to live.
Story
Die Menschen sind Problemlöser, wir kennen das ja. So findet man auch für die Erderwärmung ein Mittel zu Linderung. Die Chemikalie, die man selbstsicher in die Atmosphäre reibt, wirkt aber etwas zu gut und die Erde vereist. Nur die paar hundert Menschen, die es in den Hightech-Zug des exzentrischen Wilford geschafft haben, entkommen dem Kältetod.
Jener Zug rattert seit nunmehr 17 Jahren über ein weltweites Schienennetz und in den einzelnen Wagons wird eine strenge Hierarchie eingehalten. Die hinteren Abteile sind vor Dreck starrende Slums, in denen sich die Bedürftigen von glitschigen Proteinriegeln ernähren und regelmäßig unter harschen Restriktionen durch Wilfords Privatarmee leiden. Je weiter es Richtung Lok geht, desto mehr gleicht der Zug einem Schlaraffenland.
Obwohl es in den vergangenen Jahren schon eine Handvoll gescheiterter Revolutionen gab, wappnet sich der bärbeißige Curtis für einen Aufstand und mit ihm alle Bewohner der hinteren Abteile. Das Ziel: Die Erstürmung der Lok, eine Umkehrung des Klassenkampfes, Kontrolle über den letzten Zufluchtsort der Menschheit.
Kritik
Züge im Film. Eine so sonderbare wie traditionsreiche Liebe, die schon seit frühester Kinozeit besteht und immer wieder erneuert wurde. Dass ein Film über einen Zug mal die Charts von scififilme.net durcheinanderbringen würde, war dennoch nicht abzusehen. Gut so, denn nicht absehbare Dinge sind bekanntlich die schönsten von allen.
Snowpiercer, das schärft der Film schon ganz zu beginn ein, ist im Grunde ein Märchen, darauf deuten nicht nur unzählige klassische Muster hin, sondern auch Bebilderung und Erzählweise. Es ist für das Genießen des Werks nicht ganz unwichtig, dies zu durchschauen, aber Bong Joon-ho macht aus diesem Umstand auch keinen Hehl und zeigt überdeutlich, was für einer Gattung seine Geschichte angehört.
Die meisten Filmemacher hätten das schlauchige Zug-Setting wohl als problematische Limitation empfunden. Der begnadete Koreaner aber zieht genau daraus den größten Gewinn. Wie das Gefährt selbst ist die Handlung immer in Bewegung und der Spießroutenlauf durch die einzelnen Abteile ist weder reiner Selbstzweck noch platte Metapher, sondern über weite Strecken ein Paradebeispiel für filmisches Erzählen. Natürlich ist hier alles zum Bersten angefüllt mit Analogien – aber den Film darauf zu reduzieren, würde ihm Gewalt antun. Sie sind ein Bonus zur Geschichte, nicht umgekehrt. Und so soll es sein.
Vor allem zu Anfang in den spartanisch-ramschigen Wagons der wirklich allerniedrigsten Klasse fühlt man sich wie Pinocchio im Bauche des Wales, während die Entdeckungsreise durch den Rest des für alle unbekannten Schienenungeheuers nicht nur optische Überraschungen verspricht. Dabei hätte so viel schiefgehen können. Wie kolossal nah das Scheitern ist, wenn ein Film versucht, einander zwei Welten gegenüberzustellen, die in Sachen Wohlstand und moralischem Feingefühl die denkbar größte Distanz zwischen sich haben, zeigte kürzlich erst die fade Literaturverfilmung Die Tribute von Panem, wo die Armen schön waren, die Reichen aus Plastik bestanden und alle gemein hatten, schrecklich eindimensional zu sein. Einige Unterfraktionen in Snowpiercer sind ebenfalls eindimensional, das wird aber gleich mehrfach legitimiert. Zum einen wird ihnen ihre Eindimensionalität auf eindrucksvolle Weise vor Augen geführt, woraufhin unerwartete Facetten zum Vorschein treten können. Zum anderen funktioniert die Eindimensionalität hier tatsächlich als Werkzeug der Geschichte und als Element des Märchens. Es wird etwas damit angefangen, während sie im oben genannten Negativbeispiel einfach nur vorhanden ist. Dass die comichaften Charaktere so hervorragend funktionieren, ist natürlich zu großen Teilen dem edlen Cast zu verdanken. Tilda Swinton als lispelnde Edel-Diktatorin spielt wie ein störrisches Kind – und nervt dabei keine Sekunde. Chris Evans deutet in einem weiteren Film an, tatsächlich ein Schauspieler zu sein. Der großartige Song Kang-ho zeigt endlich mal wieder, dass er weit mehr draufhat, als auf seine einzigartige Weise den tragischen Tölpel zu mimen. John Hurt strahlt die gleiche väterliche Wärme wie in jeder Rolle der letzten Jahre aus und nutzt dabei einfach nicht ab. Das Bewundernswerte ist nicht die Masse an hochkarätigen Schauspielern, sondern die Fähigkeit, all diese Gesichter unter einen erzählerischen Hut zu bekommen, ohne dass ein Charakter überflüssig oder unterbeleuchtet wirkt.
Viel, ungemein viel gewinnt der Science-Fiction-Film durch seine Bilder. Kameramann Hong Kyung-pyo, der schon für die trübe Schönheit in Joon-hos Mother sorgte, ist ein wenig beschriebenes Blatt, beherrscht sein Handwerk aber wie kaum ein anderer. Dabei besticht Snowpiercer nicht durch Extravaganzen und viel Spielerei, sondern durch Kleinigkeiten, die teilweise so sublim und unaufdringlich sind, dass man sie bewusst kaum erkennt, während sie auf ihre Weise viel zum Gefühl des Filmes beitragen. Seien es zögerliche, aber unerbittliche Zooms im Schneckentempo, perfekt ausgetüftelte Winkel, die jederzeit Übersicht in den engen Räumen gewährleisten, aber nie vergessen lassen, wie eingepfercht die dargestellte Welt ist oder eben die unzähligen großartigen Bilder, die in rauen Mengen geliefert werden und jedes Mal für einen kleinen Freudenrausch sorgen.
Das in Verbindung mit der klugen Regie sorgt dafür, dass mit Snowpiercer ein Werk vorliegt, das auf eine Weise spannend ist, wie es nur die ganz großen Filme sind. Fantasie, Heldenkonstruktion, Bildsprache und die Akzente der Instrumentalisierung von Marco Beltrami (Wolverine: Weg des Kriegers, Warm Bodies, World War Z) schaffen ein Ganzes, das unter Cineasten wohl nie in Vergessenheit wird. Ein Film, der vielleicht wie Dark City erst viel zu spät die ihm zustehende Würdigung erhalten wird, aber dafür auch weiterbesteht, wenn der ganze andere Standard seiner Zeit nur noch für Randvermerke brauchbar ist.
Spielend wird ein ganzes Päckchen einander eigentlich ferner Genres verarbeitet, sprunghaft bewegt man sich zwischen düster-ernstem Grundton, realistischen Bildern, rauschhaften Einschüben und bisweilen fast schon ätherischen Sequenzen. Ja, Snowpiercer ist eines dieser großen Werke. Aber nicht, weil er sich an das Regelwerk erfolgreicher Hollywoodfilme hält, sondern gerade weil er sich traut, dieses in den richtigen Momenten zu ignorieren. Weil er sich das leisten kann. So märchenhaft der Film auch ist, buckelt er doch nicht vor dem Massengeschmack. Der Regisseur ist seinem durch und durch asiatischen Situationshumor treu geblieben und immer mal wieder pendelt das Geschehen zu einer schmerzhaft unangenehmen Schonungslosigkeit, die es der FSK vermutlich nicht ganz leicht gemacht hat.
Einzig am Ende scheint der permanent unter Hochdruck stehende Kessel ein bisschen Dampf einzubüßen. Die letzten Stationen der extravaganten Reise sind nicht mehr ganz so intensiv und der Stillstand am Ende tut der bisher so atemlosen Dynamik nicht ausschließlich gut. Selbst in diesen Momenten ist Snowpiercer aber immer noch sehenswerter und besser als das meiste Andere – bis zum Abschluss, der vielleicht nicht jedem schmeckt, tatsächlich aber noch einmal unterstreicht, wie treu der Film seiner Gattung, seinem Stil und seiner Geschichte ist.
Fazit
Ja, ein Märchen. Aber eines der kompromisslosesten Märchen überhaupt. Schillernde Figuren, einprägsame Bilder, ein formidables Tempo und das einmalige Gespür Bong Joon-ho, die unterschiedlichsten Elemente im richtigen Zeitpunkt zu etwas Einzigartigem zu verbinden, machen Snowpiercer zu einem strahlenden Highlight des noch jungen Jahres.