The Time to Die

Das Jahr 1970 war ein wunderliches Jahr für Kinogänger. Der Bruch zwischen zwei Zeiten war spürbar – besonders im europäischem Film. The Time to Die von André Farwagi ist ein Paradebeispiel hierfür mit seiner träumerischen Eleganz, eine durch und durch komische, verwunschene Welt darzustellen.

A film can be destroyed. Not this one.

Story

Ein Mädchen flieht zu Ross vor einer unbekannten Gefahr, verliert die Kontrolle und stürzt. Aus ihrer Hand löst sich eine Filmrolle und kullert davon, bis sie direkt neben dem im Wald ein Nickerchen machenden Leibwächter von Max Topfer liegenbleibt.
Was darauf zu sehen ist, ist mehr als verstörend: Max Töpfer wird von einem Unbekannten in einem seiner Räume erschossen. Doch Max Töpfer lebt und die Filmrolle selbst scheint nirgends registriert. Auch das verunfallte Mädchen ist mehr Rätsel als Hilfe. Nach ihrem Sturz scheint sie an partieller Amnesie zu leiden, weiß aber noch genau, dass sie im Domizil von Max Töpfer wohnt und scheint es auch bestens zu kennen. Nur wurde sie noch nie zuvor von Töpfer oder einem seiner Untergebenen gesehen.
Das vermeintliche Opfer ist wie besessen von dem mysteriösen Filmdokument und macht sich an die Analyse – bis mit dem wohlhabenden Firmeninhaber Hervé Breton der auf dem Band zu sehende Mörder identifiziert ist und mit der unmöglichen Aufzeichnung konfrontiert werden soll.

Kritik

Anna Karino, die schöne Dänin, die als Muse Jean-Luc Godards große Bekanntheit erlangte und in zahlreichen seiner erfolgreichsten Filmen mitspielte, hat im Laufe ihres Lebens schon so einiges gemacht – sie war erfolgreich auf der Theaterbühne, am Mikrofon, auf dem Regiestuhl, an der Schreibmaschine und so fort. Bis zum heutigen Tage. Da ist es von fast schon zwingender Notwendigkeit, dass manche ihrer Arbeiten in Vergessenheit geraten. Dass wiederum andere aber nie, auch nicht zur Zeit ihres Erscheinens, einem größeren Kreis von Leuten bekannt waren, ist hingegen schon ungewöhnlich. Gerade dann, wenn es sich um einen französischen Film handelt, der außerdem auch noch Größen wie Bruno Cremer und Jean Rochefort in den Hauptrollen vorzuweisen hat. The Time to Die ist aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz ein solches Phänomen. Dass Regisseur André Farwagi ansonsten kaum etwas und vor allem nichts Besonderes gemacht hat, kann zum Teil als Erklärung dienen – jedenfalls so lange, bis man sieht, was der Regisseur hier Bemerkenswertes geleistet hat. Doch der Reihe nach.
The Time to Die scheint in einer nicht näher definierten Zukunft zu spielen, macht aber keine große Sache daraus. Neben einigen Apparaturen ist es vor allem, ein bläulicher Kopf von beunruhigender, an klassische Aliens erinnernder Form auf einer Leinwand in der Villa des Protagonisten, der Zukünftiges markiert. Und dieses merkwürdige Artefakt vereint alle Sonderbarkeiten in sich, die auch den Rest der Welt ausmachen. Seine Herkunft und Beschaffenheit: Ungeklärt und auch nicht zu hinterfragen. Seine Disziplin: Rationalität. Füttert man ihn mit Informationen, vermag er es, Lösungen und Wahrscheinlichkeiten auszurechnen. Dabei scheint er aber nicht bloße Maschine zu sein, sondern hat durchaus Züge eines eigenständigen Charakters. Zugleich scheint Max Topfer dieser Entität ausgeliefert, übergibt er doch jede neue Information sofort an das blaue Orakel und überlässt diesem den Großteil der Kombinationsarbeit. Wieso es auf einem Bildschirm zu sehen ist, ob es nur ein Programm, ein Avatar oder ein tatsächlich irgendwo real lebendes Wesen ist, man weiß es nicht. In vielerlei Hinsicht präsentiert der Film nur einen hermetisch abgeriegelten Mikrokosmos, der als geschlossenes System funktioniert, in das nichts unkontrolliert ein- oder ausdringen kann.
Max Topfer, der mafiös anmutende, exzentrische Patriarch des abgelegenen Anwesens, umgibt sich mit einer Heerschar aus Leibwächtern und scheint in der Welt eine Legende zu sein – als und für was genau, erfährt der Zuschauer aber bestenfalls indirekt. Die von Bruno Cremer geliehene Mimik und Körpersprache erinnern an die italienische Schauspiellegende David Hemmings und verleihen der unnahbaren Figur Charisma, Gefühl, Eleganz und große Ausstrahlung, sodass sie in allem, was sie tut, interessant wirkt.
Der ihm entgegenstehende Hervé Breton wird gleichsam als kühler Herrscher über sein kleines Reich dargestellt, nur dass er in der totalen Öffentlichkeit und nicht in der totalen Abgeschiedenheit lebt. Als Kopf seiner Firma, aufgebaut durch das Geld seiner Frau, wirbt er für die Art von Urlaub, die Max in seinem ausgegrenzten Walddomizil rund um die Uhr hat. Er ist ein abgeklärter Geck und Dandy, den in seiner wohltemperierten Arroganz kaum etwas aus der Fassung zu bringen scheint. Das Aufeinandertreffen der beiden markanten und zugleich undurchsichtigen Figuren, von denen sich ein jeder auf unbekanntes, unheimliches Gebiet begibt und dort verletzlich macht, ist unaufdringlich und gelassen inszeniert, wirkt dadurch aber nicht minder spannend.
Das führt zum Herzstück von The Time to Die – die lupenreine, glasklare Inszenierung, die, auch aufgrund ähnlicher Ausgangssituation und Verortung, an Gialli aus eben jener Zeit oder die elegantesten Neo-Noirs erinnert. Die Bildsprache der Kamerabilder Willy Kurants ergibt zusammen mit dem klugen Schnitt eine Stimmung, die den Film vor allem besonders macht. Die durch kleine Einrichtungsdetails und Kameraeinstellungen immer etwas fremdartig wirkenden Räume, die Natur außerhalb des Anwesens, in welcher dem Zuschauer nie klare Orientierungspunkte gegeben werden, die tänzerischen Bewegungen der Figuren – all das wirkt die ganze Zeit über wie ein merkwürdiger Traum. Dass es sich bei The Time to Die um einen dieser Filme handelt, die sich durch die Filmrolle als MacGuffin stark selbstreferenziell sind, verstärkt diese Wirkung beträchtlich. Da ist es fast schon passend, dass der eigentliche Plot fast schon egal ist – wohin all das führt, wie es aufgelöst wird, all das ist im Großen wenig befriedigend und zum Glück auch gar nicht so wichtig. Es ändert nichts an der mysteriösen Ausstrahlung, dem unheimlichen Fatalismus hinter allem und der Schönheit der einzelnen Elemente.

Fazit

The Time to Die ist ein weiteres obskures Relikt aus dem Frankreich der 70er – und wie so viele andere dieser Relikte so unbekannt wie schwer zu bekommen. Doch die Suche lohnt sich. Belohnt wird man nämlich mit einem Film, der sich in eine diffuse Lücke zwischen Science-Fiction, Mystery und Krimi setzt, sich von Anfang bis Ende wie ein aufregender Traum anfühlt und einen allein durch die Stimmung so geschickt mitnimmt, dass der verhältnismäßig dünne Plot (vor allem durch die Augen der Gegenwart) zur totalen Nebensächlichkeit verkommt.

The Divide – Die Hölle sind die anderen

Der Franzose Xavier Gens ist – wieder einmal auch dank Tausendsasser Luc Besson im Hintergrund – vor allem für seinen ersten Langfrilm Frontier(s) bekannt, stolperte er mit dem Schocker doch genau richtig in die Zeit der Euphorie über das neue harte französische Horror-Kino zwischen High Tension und Martyrs. Nur so richtig gut war sein Film nicht – was ebenso auf seine kurze Stippvisite nach Hollywood in Form der Videospielverfilmung Hitman – Jeder stirbt allein zutrifft. Mit The Divide – Die Hölle sind die anderen brachte Gens dann aber einen Film hervor, der sich in jeder Hinsicht positiv von seinen Vorgängerwerken abhob. Nur wollte ihm da schon kaum noch jemand Beachtung schenken – und die wenige Beachtung, die der Film erhielt, ist ob seiner Lust an Grenzauslotung überwiegend ablehnender Natur. Und das ist schade.

There is something in the storageroom you don’t know about.

Story

Als grelle Blitze, Explosionen und Beben New York überziehen, bleiben einer neunköpfigen Truppe nur Sekunden, um sich in dem Keller eines Hochhauses zu verbarrikadieren, welcher von Hausmeister Mickey für ebensolche Notfälle präpariert wurde. Die einander weitestgehend unbekannten Menschen sitzen auf engstem Raum in diesem unterirdischen Komplex, während sie nicht wissen, was draußen vor sich geht – ob die Gefahr gebannt oder gestiegen ist, ob die Stadt Opfer eines Unfalles oder eines Angriffes wurde.
Sorge bereiten außerdem nicht nur von Draußen eindringen wollende Männer in weißen Schutzanzügen und mit voller Bewaffnung, sondern auch die sich aufstauenden Energien innerhalb der Gruppe. Was anfangs noch normale Wortgefechte sind, steigert sich für die Dauer des Aufenthalts und unter dem Mantel der Verzweiflung immer weiter, bis die Grenze des Normalen weit überschritten wird.

Kritik

Als ich The Divide 2011 damals lange vor seiner offiziellen Veröffentlichung in einem Kinosaal sehen durfte, dauerte es nicht lange, bis das Publikum auf eine außergewöhnliche Weise reagierte. Einige verließen den Saal, weit mehr jedoch – alles abgebrühte Genrefans – saßen mit vor den Mund gedrückten Händen auf ihren Plätzen und starrten regungslos und mit vor Schreck geweiteten Augen auf die Leinwand.
The Divide bewegt die richtigen Hebel und hat die richtigen Pläne. Ein Höchstmaß an Beklemmung, an vollkommener Anspannung, an Annäherung an die Eskalation. Mit den Worten „Let there be light.“ aus Michael Beans Mund beginnt eine neue Welt, deren Anfang nicht die Schöpfung, sondern die Zerstörung der vorherigen war. Fortan beginnt ein mitleidloser Schraubstock sich immer weiter zuzudrehen, um erst die äußeren Wände der menschlichen Exklave  einzudrücken und sich mit fast schon fatalistischer Unaufhaltsamkeit seinem Kern anzunähern. Serviert wird dies mit einer sehr durchdachten, ausgefeilten, aber ungemein schmutzigen Ästhetik. Wie ein Musikvideo, mit all den oberflächlichen Perversionen, die mit diesem Inszenierungsgestus einhergehen, spielt sich das Grauen über zwei Stunden hinweg ab. Und Hossa, ist das wirkungsvoll.
The Divide mutet sich und dem Zuschauer eine haarige Gratwanderung zu, indem es zwischen Panik-Psychogram Einzelner, Dynamiken eines gesellschaftlichen Querschnitts im Stile eines King’schen Mikrokosmos und der neuen französischen Hardcore-Horror-Welle angesiedelt werden möchte. Naturgemäß klappt dies nicht immer tadellos. Die Figuren werden nicht ausgiebig ausgeleuchtet, Konflikthergänge werden um des Tempos willen beschleunigt dargestellt und sehr viele Handlungen sind schlicht kaum nachvollziehbar. Andererseits liegt gerade hier der spezielle Reiz des Filmes: Es ist gerade dieser Zwischenraum, diese kaputte Heterotopie eines Kellers, der plötzlich zum Zentrum der Welt degeneriert und alle Räume zugleich zu sein hat, in dem alle bisherigen Regeln und jede normal nachvollziehbare Folgerichtigkeit außer Kraft gesetzt zu sein scheint, die grausige Faszination ausstrahlt. Wenn alles im Niedergang befindlich ist, warum, so lässt sich der Film lesen, sollte dann irgendetwas noch bekannten Bahnen folgen?
Nicht auf allem liegt ein schmutziger Staub, sondern er scheint in allem zu liegen.

Was The Divide perfekt beherrscht und was Regisseur Xavier Gens weder davor noch danach auch nur im Ansatz so gekonnt vollzogen hat, ist die Generierung immens intensiver Situationen. Die Momente, in denen die sowieso schon permanent hohe Spannung nicht mehr gehalten werden kann und irgendwo etwas unvermeidlich explodiert. In einer Heftigkeit, in einer Unfassbarkeit, die nur schwer auszuhalten ist.
Auffällig sind die immer gleich verlaufenden Kamerabewegungen, die mit einer Nahaufnahme beginnen und in einer Parabel bis zu einer Totalen zurückfahren. Der Film nähert sich den Personen nicht an, sondern entfernt sich mit ihnen im gleichen Tempo, wie sie von der Situation und sich selbst entmenschlicht werden. In diesem Extrem ist nicht jeder dem anderen Wolf, sondern etwas viel Schlimmeres.
An anderen Stellen wiederum ist die Kamera  zu bewegungsfreudig und der Schnitt zu hochfrequentiert. Viele von der Montage verstümmelte Rundfahrten um die Personengruppen wären als durchgängige Bewegungen weit intensiver gewesen. Hier stört die Musikvideo-Ästhetik dann doch das Konzept.
Ebenso übertrieben ist der Einsatz der Pianomusik, die manchmal etwas zu laut und eine Spur zu dramatisch die Tasten klingen lässt. Auch hier wäre nicht weniger, sondern einfach gar nichts mehr gewesen. Diese Augenblicke fehlender Stille kosten den Film in seiner ersten Hälfte einige Möglichkeiten, was ob der Tatsache, dass die Veranlagungen dafür vorhanden sind, doch etwas schade ist.

Was The Divide außergewöhnlich, in seinem gebiet einzigartig und in vielen Augen auch ziemlich schlimm macht, ist seine Wandlung, die er nach der Hälfte der Laufzeit durchläuft. Es ist nicht direkt ein Plottwist, es ist nicht direkt ein Bruch oder eine Wendung der Geschichte – und eigentlich ist es all das doch. In ungeahnter, ungekannter und wohl auch ungewollter Weise. Denn die klassische Intensivität, die bisher aufgebaut wurde und auch einen ebenso klassischen Gipfel erklomm, weicht einer, die in dieser Richtung nicht erwartet und in dieser Form noch nicht oft vorgekommen ist. Und diese Intensität wird gesteigert, überdreht und einfach weiter gesteigert. Über alle Konventionen, Regeln und Erwartungen hinweg. Über jede Form von Geschmack und auch über die Formen des Zumutbaren hinaus.
Und hier fallen die Vorhänge. Denn so wie die Personen ihre unnatürliche Schönheit verlieren, verliert sie auch der Film. Das Piano schwärmt seltener, Die Montage beruhigt sich.  Und auch die Kamerafahrten kehren sich um – nun wird von der Totalen zur Nahen gezoomt. Hinein in das Grauen, das nicht mehr Mensch ist.

Fazit

Es hätte ein unvergleichliches Manifest des Grauens und der filmischen Gnadenlosigkeit werden können. Dass The Divide fast überall abgelehnt und belächelt wird, liegt in der Natur extremer Filme. Unnötige, weil aussagelose Schaumschlägerei der Inszenierung gerade in der ersten Hälfte spielen den Kritikern aber in die Hände und verwehren Xavier Gens‘ einzig guten Film auch hier widerspruchsfreie Würdigung. Denn dafür vertraut der Film letztlich zu wenig auf seine inhärente Effektivität und verwässert sie mit effekthascherischem Geplänkel. Dessen ungeachtet ist der SF-Terror aber mehr als nur einen Blick wert, setzt er doch auf seine Weise Maßstäbe und besitzt eine Wucht und Eindringlichkeit, der man sich unmöglich widersetzen kann.

Fahrenheit 451

Hin und wieder machen die Großen des Kinos ihre Aufwartung auf hier. Heute ist es François Truffaut, Mitbegründer der Nouvelle Vague. (Auch in Gedenken an den letzte Woche verschiedenen Kinomagier Jacques Rivette, von dem man sowieso schnellstmöglich alles sehen und lieben sollte. Wieder und wieder.)
Truffaut hat in seiner Karriere genau einen einzigen Film auf Englisch und auch nur einen einzigen Science-Fiction-Film gedreht. Beides ist Fahrenheit 451, lose nach dem gleichnamigen Roman von Ray Bradbury.

Who can explain the fascination of fire?

Story

Als die Erkenntnis kam, dass sich Bücher reflexiv mit Problemen oder offensiv mit Konflikten auseinandersetzen, folgte ihr Verbot. Zur Steigerung des Wohlbefindens wurden Bücher verboten und verbrannt, wo sie noch waren. Das ist die Aufgabe der Feuerwehr, nun schon seit vielen Jahren. Guy Montag ist bereits seit 5 Jahren erfolgreich in diesem Job, glücklich mit seiner Frau Linda im gemeinsamen Heim verheiratet und kurz vor der Beförderung stehend.
Als er aber Clarisse, eine nachdenkliche Lehrerin, begegnet, beginnt sei Weltbild zu schwanken. Und er nimmt sich ein Buch zur Hand.

Kritik

Innovationen sind entweder zeitlos oder nur in ihrer Gegenwart als solche anerkannt und gültig. Je nachdem etablieren sie sich dann als Standard, werden zum Trend oder bleiben aufgrund von Scheitern oder gar völlig unrechter Missachtung unbeachtet. In Fahrenheit 451 sind die gezeigten Werkzeuge, Uniformen und Interieurs überholt, die Idee ist es nicht; Das Verbot einer kulturellen Selbstverständlichkeit, eine radikale, kategoriale Zensur ist so lange ein aktuelles Thema wie es hierarchische Machtstrukturen gibt.

Dass Truffauts Science-Fiction-Film toll gealtert ist, liegt einerseits natürlich erst einmal an einer hervorragenden Restauration und Neuabtastung des Filmmaterials, andererseits aber auch an geschickten stilistischen Entscheidungen. Zu Teilen ist das Interieur nämlich ganz offensichtlich und absichtlich altmodisch gehalten, die Einrichtungen laden dazu ein, als rückwärtsgewandter Anachronismus stutzig zu machen. Telefone, Möbel, technisches Kleingerät, so etwas entstammt häufig einer Epoche, die 1966 längst schon zurückgelassen war. Allein die bühnenhaften Innenräume sind ein typisches Indiz für Studiofilme dieser Zeit, fügen sich aber gerade deshalb nahtlos in die Welt
Stillstand, Rückschritt, kommt mit gesellschaftlicher Verirrung. Aber es ist vor allem die kluge Beobachtung, dass bestimmte modische Elemente für eine Wiederkehr fast schon prädestiniert sind, die Fahrenheit 451 zwar nicht zur allerglaubwürdigsten Zukunftsvision machen, das Szenario aber zu einem glaubwürdigen Szenario an sich, das in seiner Zeichenhaftigkeit und sterilen Kantigkeit ausdrucksstark ist und mit seiner Fremdartigkeit einen faszinierenden Sog ausübt.
Gezeigt wird dies mit einer experimentierfreudigen Kamera, die nur manchmal etwas zu schnell am Raus- und Reinzoomen und -schwenken ist, im Grunde aber höchst geschickt den Zuschauer manipuliert, da sie gerne Dinge zeigt oder Dinge tut, die die Aufmerksamkeit bewusst auf etwas und von etwas anderem lenken. Damit werden Erwartungen geschürt und zugleich unterwandert.
Es resultieren fesselnde Bilder einer Welt der dringlichen Farben, die sich für den Zuschauer erst langsam, Stück für Stück entblättert. Ihr Gegenstände, Prinzipien und Probleme schlüpfen ganz natürlich sukzessive in den Film. Gemeinhin ist es Usus, so früh als möglich die Grundlagen der Diegese offenzulegen und dann eine Geschichte auf dieser Grundlage sich abspielen zu lassen. Geschichte und Welt im Laufe des gesamten Filmes erst nach und nach gemeinsam aufzudecken, ist so selten wie gefährlich. Fahrenheit 451 tut dies, blockt damit subtil manche Erzählkonventionen ab und wirkt in Folge nicht etwa sperrig, sondern angenehm interessant.
Angefangen mit den Opening-Credits, die nicht einfach als Text auf das Bild geblendet, sondern von einem Vorleserstimme vorgetragen werden. (Im Deutschen übrigens von einem Mann, im Original von einer Frau) Die Problematik auf eine solche, die Dritte Wand durchbrechende Weise zu etablieren, ist ein Kunstgriff, der in seiner schlichen Effizienz auch heute noch imponiert. Zugleich wird schon hier ein Handbreit die Tür geöffnet für eine mal mehr mal weniger präsente Skurrilität in der Geschichte, die Fahrenheit 451 in manchen Momenten beinahe zur Komödie werden lässt.

Am bemerkenswertesten ist die Schulsequenz in der Mitte des Filmes, in der all das auf eine wahnsinnig stilvolle und zugleich sehr unauffällige Weise fusioniert und dadurch etwas einzigartig Feines entstehen lässt. Es ist ein langer Gang, der trotz seiner Gradlinigkeit labyrinthisch wirkt, da die Montage die 180-Grad-Regel einfach missachtet. Das Wichtige findet außerhalb dieses Ganges, in den scheinbar zahllosen Räumen statt, wo die Kinder simultan im Chor Multiplikationsaufgaben lösen. Blicke verschiedener Figuren, die für Verschiedenes stehen, begegnen sich und etwas geschieht.
Es sind solche Momente, in denen Fahrenheit 451 fesselnd, verheißungsvoll und künstlerisch aufregend ist, in denen die Innovation des Filmes immer noch besticht und Jahreszahlen ihre Bedeutung verlieren. Es sind solche Momente, die auch die weniger gut funktionierenden, tragen.
Applaus verdient der Film auch dafür, dass er seine Geschichte nicht plump erzählt, dass er den eigentlich schon oft erzählten Plot mit allen bekannter Moral auf eine Weise darbietet, die noch einmal von Grund auf nachdenken lässt, um was es da eigentlich geht. Er zeigt nicht unsere, sondern eine Welt, in der das Bücherverbot normal ist und als vollkommen vernünftig anerkannt wird. Ohne nennenswerte Zweifel oder aktiv rebellierenden Untergrund, sondern tatsächlich funktionierend.

Oskar Werner spielt den abtrünnigen Feuerwehrmann mit schwer zu deutender Mimik irgendwo zwischen selbstsicher, spitzbübisch, verwegen und überheblich. Dazu wie er etwas sagt passt, was er sagt. Aus historischer produktionshistorischer Perspektive ist das besonders interessant, denn Fahrenheit 451 bzw. die Rolle des Guy Montag bedeutete das Ende einer produktiven Freundschaft von François Truffaut und Oskar Werner. Werners Vorstellungen des Charakters Montag waren fundamental andere als die des Regisseurs, sodass sich im Laufe der Dreharbeiten immer größere Spannungen aufbauten, die bis zur Arbeits- und Fügungsverweigerung des österreichischen Film- und Bühnendarstellers.
Truffauts Version – die des sonderbar Unbeschwerten, der sich vom Spießbürger zum Aufständischen entwickelt – passt zu dem Grundgefühl des Filmes. Die Prämisse lässt etwas Düsteres und Simples erwarten, doch Fahrenheit 451 geht von Anfang an mit einer surrealen, schwer abzuschätzenden Leichtigkeit gegen diese Erwartung vor, sodass die ganze Szenerie bedrohlich und zugleich doch merkwürdig verführerisch wirkt.
Das ist besonders bemerkenswert, da die hier skizzierte Welt eine im Kern sehr pessimistische ist. Auch wenn eine Anmerkung gen Ende vermuten lässt, die Geschichte verlaufe periodisch, sodass die Dystopie wieder von einer Phase der Vernunft abgelöst werde, scheint der fest verankerte Status quo einer zu sein, der so leicht nicht zu kippen ist. Die alternative Gesellschaftsform, die am Ende als Ausweg vorgeschlagen wird, ist eine, die offenkundig aus Verzweiflung geboren, die sich in einer so romantischen wie irrigen Idee verliert, welche zirkelschließend in Teilen tatsächlich erahnen können lässt, wie es zu der fatalen Ausgangssituation überhaupt erst hat kommen können.

Fazit

Interessant, viel mehr als spannend oder mitreißend, das ist François Truffauts Science-Fiction-Ausflug heute. Aber dafür sehr interessant, weil er inszenatorisch, analytisch und durch seine Charaktere, weil er durch seinen skurrilen Humor und die ehrliche Darbietungsweise seines Themas dazu verleitet, mehr wissen zu wollen von dieser Welt und ihren Bewohnern. Womöglich funktioniert der Film nicht in jeder einzelnen Szene so, wie er damals intendiert war, aber in diesen seltenen Momenten wirken die guten Szenen einfach ausreichend nach.