Japan-Filmfest Special: Himizu

Japan-Filmfest Special 6

Vor 5 Jahren brach Love Exposure wie ein Sturm über die Filmwelt herein. Der exzentrische Vierstünder polarisierte und plusterte sich in kürzester Zeit zum Kult auf. Drei Jahre und genauso viele Filme später steht nun Himizu vor der Tür und die Erwartungen sind ungebrochen riesig.

Alles, nur nicht mich.

Story

Yuichi ist vierzehn Jahre alt und hat sehr nüchterne Ziele. Der trunksüchtige Vater schaut nur vorbei, wenn er Geld oder einen Sündenbock sucht, die fragmentierte Mutter degeneriert vor dem Fernseher und über allem schwebt die Zerstörung und das Gezirpe der Geigerzähler nach Fukushima.
Der Verschlag, in dem Mutter und Sohn hausen, ist gleichzeitig ein Bootsverleih, den Yuichi auf eigene Faust leitet.
Er plant, die Schule so früh wie möglich zu verlassen und mit diesem Job weder glücklich noch unglücklich zu werden, sondern einfach nur resigniert das Leben zu überstehen.
Für Unruhe sorgt nicht nur die unnachgiebige Stalkerin Keiko, sondern auch die Yakuza, die eines Tages vor der Hütte aufkreuzt und das Geld eintreiben will, das der Vater ihnen schuldet.
Der Anfang eines Taumels zwischen Matsch, Blut und Erkenntnis.

Kritik

Sion Sono ist ein Meister seines Fachs und das beweist er einmal mehr. So unterschiedlich seine Filme auch aussehen mögen, die Art, wie sie erzählt werden, ist unverwechselbar. Als der Tsunami kurz vor den Dreharbeiten über das Land einbrach, spann er die Story einfach um die Auswirkungen der Katastrophe herum und verlieh der Manga-Verfilmung damit eine nihilistische Aura sondergleichen. Die mit zarter Langsamkeit eingefangenen Bilder der totalen Verwüstung sind von brennender Schönheit.
Was bei Himizu bereits in der ersten Szene auffällt, ist die Perfektion der Inszenierung. Der Film ist straff, aber keineswegs gehetzt erzählt und unterlegt mit perfekt akzentuierter Musik, die Tonnen zu wiegen scheint, wodurch schon nach wenigen Minuten eine Intensität errichtet wird, von der die Finale anderer Filme nur neidvoll träumen können. Für eine ganze Weile schafft es Sono durch geschickten Szenenaufbau, dass dieser Effekt sich selbst immer wieder steigert. Selbst die humoristischen Sprenkel, durch den Kontext durchweg tief schwarz, sind so eingebaut, dass sie die Klimax noch verdichten, während sie der Sache ein wenig die Schwere nehmen und durch Eleganz ersetzen. Alles ist schlimm: Mütter verlassen, Kinder verprügeln, Stürme verheeren und Tode werden vorbereitet. Ständig schlägt irgendeiner einen anderen, Schienbeine treffen auf Brustkörbe und beinahe jeder Konflikt endet in Schlamm und Wasser des anliegenden Sees. Die Zeit steht still.
Trotz der leidvollen Konstellation ist der Film ein morbid angenehmer Genuss.
Himizu ist speziell durch seinen narrativen Sonderstatus zum Verlieben frisch und unverbraucht. Die Figuren sind undurchschaubar und dadurch nur schwer einzuschätzen. Weder die abgedrehte Stalkerin noch der weltvergessene, eiskalte Pessimist Yuichi mit seinem Hang zur Grausamkeit ermöglichen eine problemlose Identifikation. Sympathisch ist höchstens eine Randfigur, die im Flüchtlingslager nebenan haust und tragisch scheiternd Gutes will.
  
Die Handlung nimmt unkonventionelle Wege und die ganze dargestellte Welt ist durchsetzt von Fremdartigkeit. Viele Erfahrungen und Erwartungen sind in der Diegese von Himizu ihres Werts beraubt. Es ist nicht relevant, wie alt die Figuren sind und was sie tun, Tatsachen und Handlungen werden nicht nach den Maßstäben unserer Welt bewertet, sondern nach den ästhetischen des Filmes. Und so können Vierzehnjährige Könige sein und Morde nur Dinge unter Dingen. Auch wenn manche Dinge schwerer wiegen als andere.
Und was wäre ein Werk Sion Sonos, das nicht mindestens dreimal so viele Stränge, Genres und Abhandlungen beinhaltet, wie normale Filme?
Spätestens jetzt wird überdeutlich, was für ein unfassbar großes Talent in diesem  Mann schlummert. Gleich mehrere Welten prallen in diesem Film immer wieder keuchend und zischend aufeinander, bis sie irreversibel miteinander verklumpt sind und am Ende nur noch ein einziger Ausweg bleibt. An jeder Abbiegung wird das Unwägbare gewagt und das gesamte Ensemble spielt sich mit Inbrunst die Seele aus dem Leib in dieser von der Schönheit der Selbstaufgabe durchdrungenen Mischwelt. Besonders Hauptdarsteller Shôta Sometani leistet Beachtliches.
In etwa der Mitte des Filmes vollzieht sich ein Bruch, der vieles ändert. Der Höhepunkt ist durchstanden, die eigentliche Geschichte ist erzählt. Was folgt, ist fast so etwas wie eine  zweite, an die erste anschließende Geschichte, die dieser in Sachen Intensität aber nie das Wasser reichen kann. Beinahe könnte man meinen, dass es sich um einen überlangen Epilog handelt und leider ist dieser auch technisch nicht mehr ganz so exzellent und weniger dicht mit inszenatorischen Glanztaten bestückt.
Doch hat auch diese letzte Ungewöhnlichkeit ihren gewöhnungsbedürftigen Reiz.

Fazit

Er hat es schon wieder getan. Himizu ist in vielen Belangen ein kleines Meisterwerk und definitiv einzigartig. Besonders die zerstörerisch intensive erste Hälfte mit ihrer perfekten Mischung aus Schwere und Leichtigkeit ist ein unvergleichlich spannendes Erlebnis.
Zwar fällt der zweite Part im Vergleich ein wenig ab, ist absolut betrachtet aber immer noch hervorragendes Kinovergnügen der definitiv unkonventionellen Art.
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